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Ukrainische Militärärzte tragen einen toten Soldaten

© IMAGO/ZUMA Wire/IMAGO/Madeleine

„Wir haben weder Leute noch Waffen“: Die Frontberichte aus der Ukraine werden düsterer

Die Berichte über Probleme der Ukrainer an der Front häufen sich. Es geht um Kritik an der Militärführung, fehlende Waffen und Munition. Kommt jetzt ein realistischerer Blick auf den Krieg?

Zu Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine war die Überraschung groß, dass die Verteidiger den Attacken standhielten und die Russen sogar zurückschlagen konnten.

Im Frühjahr 2022 berichteten Medien vor allem über die Unfähigkeit der russischen Truppen, über militärische Anfängerfehler Moskaus und über ukrainische Heldengeschichten – zusammen ließen die Berichte viele Beobachter gar auf einen schnellen Sieg der Ukraine hoffen.

Je länger der Krieg andauert, desto differenzierter wird der Blick auf das Geschehen auf dem Schlachtfeld. Inzwischen dominieren Berichte über Russlands blutiges, aber aus militärischer Sicht teilweise erfolgreiches Vorgehen. Wenn es um die ukrainische Seite geht, ist von hohen Verlusten, sinkender Moral und Mangel am militärisch Notwendigen bei Munition und Gerät die Rede.

Damit verschiebt sich die Wahrnehmung: Russland erscheint wieder stärker und in der Offensive, die Ukraine schwächer und auf dem Rückzug.

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Anfang März berichtete der US-Hörfunksender National Public Radio (NPR), dass sowohl die ukrainischen als auch die russischen Streitkräfte ihre am besten ausgebildeten Soldaten verschlissen hätten. Beide Seiten seien nun stark auf Wehrpflichtige angewiesen.

Es gibt nur wenige Soldaten mit Kampferfahrung. Leider sind sie alle schon tot oder verwundet.

Ein ukrainischer Kommandeur

Das Problem bestehe allerdings darin, dass Russland über weitaus mehr Truppen verfügt als die Ukraine, zitiert NPR einen ukrainischen Kommandeur. Und in ihrer schieren Masse würden selbst junge, unerfahrene Soldaten eine Herausforderung darstellen.

Diese Entwicklungen führe zu wachsendem Pessimismus in den Reihen der Ukrainer, wie ein Bericht der „Washington Post“ von Mitte März beschreibt. „Wir haben weder die Leute noch die Waffen“, zitiert die Zeitung einen hohen ukrainischen Militär.

Ein Kommandeur beschreibt die Lage gegenüber der Zeitung so: „Es gibt nur wenige Soldaten mit Kampferfahrung. Leider sind die anderen schon tot oder verwundet.“

Allein in seiner Einheit seien von etwa 500 Soldaten etwa 100 getötet und weitere 400 verwundet worden, sagt der Kommandeur der „Washington Post“. Das führe zu einer kompletten Umstellung der Truppe. Als einziger erfahrener Soldat habe er eine Einheit führen müssen, die nur aus unerfahrenen Kämpfern bestehe. Drei Tage nach dem Interview wurde der Kommandeur von seines Postens enthoben, schreibt die „Washington Post“.

Nur eine Route raus aus Bachmut

Am Wochenende berichtete die „Post“ zudem vom schweren Stand der Verteidiger der einzigen ukrainischen Nachschubroute nach Bachmut. „Wenn wir unsere Arbeit nicht machen, wird die Verteidigung von Bachmut nur noch ein oder zwei Tage halten. Und alle Menschen, die dort sind, werden für immer dortbleiben“, wird der Kommandeur des Aidar-Bataillons zitiert.

Vor einigen Tagen erregte zudem ein Artikel der ukrainischen Zeitung „Kyiv Independent“ Aufsehen. Die Reporter hatten drei Soldaten aus Bachmut interviewt. Der Tenor: Große Ernüchterung und Zweifel an der Strategie der Militärführung in Kiew.

Teilweise stünden die ukrainischen Positionen Stunden oder Tage unter russischem Feuer, bevor die eigene Artillerie auf den Feind reagiere, erzählten die Interviewten. Auch Munition, Drohnen und leichte gepanzerte Fahrzeuge seien knapp an der Front. Die Munition reiche manchmal nur für ein paar Minuten.

Ihr Bataillon habe innerhalb von zwei Monaten 350 von 500 Soldaten verloren, erzählten zwei der Interviewten weiter. Die Chance, im Schützengrabenkampf zu überleben, schätzten sie auf 30 Prozent.

Die Berichterstattung sei weitgehend realistisch, berichtet „Politico“ unter Berufung auf den Militärexperten Michael Kofman vom Center for Naval Analyses (CNA), der erst kürzlich in Bachmut war.

In einem Podcast schilderte Kofman aber auch, wie gut die Moral der ukrainischen Soldaten in Bachmut generell sei, die er getroffen hat. Und: Jeder Teil der Front sei anders, erklärte Kofman. An anderen Teilen der Front kämpften die Ukrainer auf Augenhöhe mit den russischen Truppen, die Versorgung und die Verfügbarkeit von Gerät und Munition sei gut.

Eine Artillerieeinheit nimmt die Kämpfe anders wahr als die Infanterie

Aber nicht nur die Lage an den einzelnen Frontabschnitten ist unterschiedlich. Selbst in den eingesetzten Einheiten kann es große Unterschiede in der Wahrnehmung des Geschehens geben. Eine von der direkten Kampflinie viele Kilometer entfernte Artillerie-Einheit erlebt die Gefechte anders als die Infanterie im Schützengraben. Hinzu kommt, dass vor allem die Infanterie aus Rekruten besteht und die noch verbliebenen erfahrenen Soldaten meist zu Spezialeinheiten gehören.

Kein Wunder, dass einer der ersten kritische Berichte über die Lage der ukrainischen Soldaten an der Front im Donbass vor allem Infanterieeinheiten von Rekruten betraf. Der Artikel der „Washington Post“ aus dem Sommer 2022 traf auf große internationale Resonanz und wurde breit zitiert. Eine Einheit ukrainischer Soldaten wandte sich damals sogar per Video mit einem Hilferuf an die Militärführung, Berichte über Desertationen in den ukrainischen Reihen erschienen. Etwas, das bis dahin nur von russischen Einheiten bekannt war. Tatsächlich hatten zu diesem Zeitpunkt auch schon mehrere Journalisten in kleinen englischsprachigen Publikationen von den Realitäten an der Front berichtet.

Über die prekäre Lage der ukrainischen (und russischen) Soldaten und die hohen Verluste auf beiden Seiten berichtete die „Post“ auch im Herbst 2022. Damals tobte die Schlacht um Kherson, die die Ukrainer schließlich für sich entschieden. Die Armeeführung in Kiew hatte über Wochen eine Informationssperre verhängt, die es Reportern schwer machte, sich über die Lage an der Front zu informieren. Die Journalisten holten sich schließlich ihre Informationen von den Verwundeten in Militärkrankenhäusern nahe der Front.

Aber auch was die Berichterstattung angeht, ist die Situation je nach Kriegslage und Ort unterschiedlich: In den allermeisten Fällen können akkreditierte Journalisten an die umkämpftesten Orte des Landes reisen und frei von dort berichten.

„Ich denke, einigen der vorherrschenden Erzählungen über diesen Krieg fehlt es an Nuancen, sie stellen etwas dar, das an ‘Herr der Ringe’ erinnert und suggerieren, es sei ein Dokumentarfilm. Daher kann die Realität ernüchternd und erschütternd sein“, ordnet Michael Kofman gegenüber „Politico“ die jüngsten Frontberichte ein.

Eben weil die Ukraine am Anfang so heroisiert wurde, fielen und fallen die realistischen Berichte von der Front wohl umso mehr auf. Auch der Erfolg im Kampf von David gegen Goliath ist mit dem Horror des Krieges verbunden.

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