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Seit 2020 steigt die Mordrate in Ecuador stark an, die Zahl hat sich seitdem mehr als verfünffacht.

© Reuters/Henry Romero

Wahlen in größter Sicherheitskrise: Findet Ecuador einen Weg aus der Gewalt?

Von einem der sichersten Länder Südamerikas ist Ecuador zu einem der gefährlichsten geworden. Gerade wurde einer der Präsidentschaftskandidaten ermordet. Wer profitiert davon?

Ein Gastbeitrag von Sonja Gündüz

Welcher Kandidat schafft es, die immer weiter eskalierende Gewalt zu stoppen? Diese Frage stellt sich die ecuadorianische Bevölkerung, wenn sie am Sonntag einen neuen Präsidenten wählt.

Der Mord am Präsidentschaftskandidaten Fernando Villavicencio am 9. August machte weltweit Schlagzeilen. Der Fall verdeutlicht: Die vorgezogenen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen finden in der massivsten Sicherheitskrise statt, die das Land je erlebt hat.

Zählte Ecuador noch vor einigen Jahren zu den sichersten Ländern Lateinamerikas, steigen die Mordraten seit 2020 enorm: von 7,6 gewaltsamen Todesfällen pro 100.000 Einwohner hat sich die Zahl mittlerweile mehr als verfünffacht.

Eigentlich sah es noch bis Anfang August danach aus, als würde die Mitte-links-Partei des Ex-Präsidenten Rafael Correa von der angespannten Sicherheitslage profitieren. Doch seit dem Mord an Villavicencio hat sich die Lage verändert. Jetzt gewinnen die rechtsgerichteten Kandidaten an Zuspruch. Sie versprechen, mit harter Hand gegen das Verbrechen vorzugehen.

Der Staat hat praktisch die Kontrolle über weite Teile des Landes verloren.

Franklin Ramirez, Professor des Instituts für politische Studien der Universität FLACSO

Wer auch immer die Wahl am Sonntag gewinnt: Die Herausforderungen, denen er sich stellen muss, sind komplex. „Der Staat hat praktisch die Kontrolle über weite Teile des Landes verloren“, sagt Franklin Ramirez, Professor des Instituts für politische Studien der Universität Flasco dem Tagesspiegel. Viele Regionen stünden unter der Kontrolle der organisierten Kriminalität.

Ein Grund für die Situation findet sich gar nicht in Ecuador, sondern in Kolumbien. „Die kolumbianische Farc-Guerilla funktionierte als eine Art Puffer“, sagt Ramirez. Seit dem Friedensvertrag 2016 und den aktuellen Verhandlungen mit der kolumbianischen Regierung treten sie moderater auf. Der fragile ecuadorianische Staat war nicht in der Lage, das dadurch entstandene Machtvakuum an der Grenze zu Kolumbien zu füllen.

Verschiedene Gruppen und Narco-Kartelle kämpfen seitdem dort und an Häfen um die Vorherrschaft. Auch Militär und Polizei seien von kriminellen Strukturen durchdrungen.

Es ist kein Zufall, dass die Gewalt in den armen Stadtteilen am größten ist.

Juana Francis, Aktivistin des afro-ecuadorianischen Kollektiv „Frauen des Asphalts“

Laut Ramirez ist die Situation auch hausgemacht. Unter den letzten beiden Regierungen von Lenin Moreno und Guillermo Lasso seien öffentliche Institutionen massiv beschnitten worden. „Ohne eine Strategie, die fehlenden Strukturen zu ersetzen“, sagt Ramirez. Das Innenministerium – zuständig für die Sicherheit – habe im ersten Semester 2023 erst neun Prozent seines Budgets verbraucht. Und die Finanzkontrollen haben sich gelockert – eine Erleichterung für Geldwäsche.

Die Kürzungen betrafen auch die Sozialpolitik. Die Armut ist stark angestiegen, viele Kinder haben in der Pandemie die Schule abgebrochen, die Krankenhäuser haben Mangel an Medikamenten. Nur noch ein Drittel der Ecuadorianer arbeitet in sozialversicherungspflichtigen Jobs. „Es ist kein Zufall, dass die Gewalt in den armen Stadtteilen am größten ist“, sagt die Aktivistin Juana Francis des afro-ecuadorianischen Kollektivs „Frauen des Asphalts“ in Esmeraldas.

Sie kritisiert die eindimensionale Idee von Sicherheit. „Jetzt ist wieder ein Notstand ausgerufen. Sie militarisieren die Straßen und denken, das löst irgendwas“. Dabei habe die Abwesenheit des Staates erst das Umfeld für die Kriminalität geschaffen, diese Maßnahmen griffen zu kurz.

Große Unterstützung für Ex-Präsident trotz Korruptionsvorwürfen

Trotz der Korruptionsvorwürfe und des autoritären Auftretens von Ex-Präsident Rafael Correa erfährt seine Partei Revolución Ciudadana noch immer große Unterstützung. Vor allem in den Küstenregionen Ecuadors feiert man sie für ihre Regierungszeit von 2007 bis 2017, in der sie den Staat gestärkt und die Sozialsysteme verbessert hat.

Genau darauf setzt Kandidatin Luisa Gonzales in ihrer Wahlkampagne. Die einzige Frau unter den Kandidaten positioniert sich als Gegenspielerin zur wirtschaftsliberalen Regierung des Bankers Lasso. Bisher hatte sie die Umfragen mit rund 30 Prozent angeführt.

Ihr indigener Konkurrent Yaku Perez holte mit seinem Umweltprogramm bei den letzten Wahlen völlig überraschend 22 Prozent. Doch dass er diesen Erfolg wiederholen kann, scheint in der aktuellen Situation eher zweifelhaft.

Je gefährlicher die Situation wahrgenommen wird, desto mehr ist die Wahlentscheidung eine der Suche nach Lösungen der harten Hand.

Pablo Ospina, Dozent für soziale und globale Studien der Universität Andina

„Je gefährlicher die Situation wahrgenommen wird, desto mehr ist die Wahlentscheidung eine der Suche nach Ordnung, einem autoritären Diskurs, und Lösungen der harten Hand“, sagt Pablo Ospina, Dozent für soziale und globale Studien der Universität Andina dem Tagesspiegel. „Das sorgt für eine Tendenz hin zur Rechten“.

Etwa zu den Kandidaten Otto Sonnenholzner und Jan Topic. Sie repräsentieren die Unternehmerschicht und stehen für ebendiese Politik der harten Hand. Der eloquente Radiomoderator Sonnenholzner hatte eher einen rationalen Diskurs, in der Präsidentschaftsdebatte aber verschärfte sich sein Ton. Es fielen Sätze wie: „Seid euch sicher, wenn ein Verbrecher eine Waffe gegen einen Bürger erhebt, wird er den Schuss bekommen, den er verdient.“

Topic wiederum posiert mit Maschinengewehr und brüstet sich damit, als Scharfschütze „in Syrien und den feindlichsten Orten Afrikas“ für die französische Fremdenlegion und in der Ukraine gekämpft zu haben. Bisher überzeugte sein monothematischer Wahlkampf die meisten Wähler nicht. Genau das könnte sich jetzt ändern.

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