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Der Künstler Claude Lévêque hat für das historische Palais Garnier zum Jubiläum eine Installation geschaffen.

© C. Pele, OnP

350 Jahre Oper in Paris: Die Kunst der Revolution

Frankreich feiert 350 Jahre Pariser Oper und 30 Jahre Bastille-Eröffnung. Ein Besuch zum Jubiläum.

Die Farbe des Sommers in Paris ist grün. Nicht wegen der Bäume, die auch hier einer Rekordhitze trotzen mussten. Grün sind die Plastikbarrieren der Baustellen, und von denen gibt es gerade viele in Paris. Die ganze Stadt scheint einem Buddelwahn verfallen, vertraute Wege sind plötzlich unpassierbar. Ist Georges-Eugène Haussmann zurück, will er die Kapitale erneut radikal umkrempeln? Nein, es ist Anne Hidalgo, die sozialistische Bürgermeisterin, die nach der nächsten Wahl vielleicht nicht mehr amtieren wird, weil ihre Partei zuletzt auf fünf Prozent abgeschmolzen ist. Vor ihrem möglichen Aus aber will die erklärte Autogegnerin der am dichtesten besiedelten Stadt Europas ein Erbe hinterlassen: Fahrspuren verengen, Schnellstraßen schließen, Autofahrer quälen, bis sie der Innenstadt fernbleiben, neue Radwege anlegen, E-Mobilität ausbauen und vor allem: Bäume pflanzen. All das, um Paris in Zeiten der Erderwärmung bewohnbar zu halten.

Auch die Place de la Bastille, der große Kreisel mit der Säule der Julirevolution im Zentrum, ist Baustelle. Autos müssen sich hier künftig mit deutlich weniger Platz begnügen. Die „grandes vacances“ sind fast zu Ende. Wird, wenn alle zurückkehren, das Chaos ausbrechen? Auf der Freitreppe der Opéra Bastille sitzen Menschen, auch wenn sie mit Musiktheater nichts am Hut haben, Tag und Nacht. Anders als bei Notre-Dame, die nicht mehr angestrahlt wird und sich schemenhaft wie ein verwundetes Tier aus der Dunkelheit schält, leuchtet hier etwas: Die Lichtinstallation „Saturnales“ von Claude Lévêque setzt dem Gebäude ein Diadem auf. Weithin sichtbar soll es zeigen: Wir feiern, und zwar ein Doppeljubiläum. Vor 30 Jahren, am 13. Juli 1989, dem Vorabend der Revolutionsfeiern, wurde die Opéra Bastille eröffnet. Vor 350 Jahren, 1669, unterzeichnete Ludwig XIV. ein Papier, das man als Gründungsdokument jener Institution interpretieren könnte, die wir heute „Opéra de Paris“ nennen. Und die in zwei Körpern existiert, dem Haus an der Bastille und dem prunkvollen Palais Garnier.

Eine Geschichte von Macht, Politik und Leidenschaften

Oper in Paris – das ist eine Geschichte von Baustellen, Macht, Politik und Geld, von Eifersucht, Leidenschaften, Proteststürmen und Feuersbrünsten, sogar von Attentaten. Und von Musik, natürlich. Wie überall, aber vielleicht nirgends so sehr wie hier, war sie eine fürstliche, eine nationale Angelegenheit. Denn eigentlich war Oper woanders entstanden, in Italien, Heimatland Kardinal Mazarins, der Frankreich nach dem Tod Ludwigs XIII. an der Seite Anna von Österreichs, der Witwe, regierte. Fahrende Sänger brachten die neue, aufregende Kunstform über die Alpen. Mazarin schätzte sie sehr, wollte sie „französisieren“. Auch der junge Ludwig XIV. war angetan, stand selbst auf der Bühne, trat 18 Jahre lang auf, in rund 70 Rollen. Folgenreich wurde vor allem die der Sonne im „Ballet de la Nuit“ 1653. Denn damals kam dem jungen Herrscher die Idee, er könne sich doch „Sonnenkönig“ nennen.

Man erfährt solche Details in der Ausstellung „Un Air d’Italie“ im Palais Garnier, die noch bis 1. September die Geschichte der Pariser Oper von den Anfängen bis zur Revolution nachzeichnet. Die wirklich große Zeit beginnt erst im 19. Jahrhundert, sie ist Thema der Folgeausstellung „Le Grand Opéra“ ab 24. Oktober. Lévêque hat auch das Palais Garnier gestaltet, mit Lichtspielen und Skulpturen, die in ihrer Profanität den Pomp brechen, obwohl sie ihn mit Goldanstrich doch zu affirmieren scheinen.

In der Ausstellung ist ein Druck jenes legendären „Privilège“ zu besichtigen, mit dem Ludwig XIV. am 28. Juni 1669 dem Dichter Pierre Perrin die Gründung einer Akademie und die Aufführung von Opern in Paris erlaubt. Perrin verschwindet bald aus der Geschichte, wegen Schulden wird er 1671 eingekerkert, ein gerissener Komponist kauft die Rechte. Sein Name: Jean-Baptiste Lully. In den folgenden Jahrzehnten hat die Pariser Oper viele Namen und vor allem: viele Standorte. Immer wieder zerstört Feuer die von Kerzen beleuchteten Theater.

Kurz vor der Revolution verkauft Ludwig XVI. die Oper, die bis dahin, ähnlich wie die Berliner Lindenoper, eine königliche Institution gewesen war, an die Stadt Paris – für immer. Heute verbinden die meisten, wohl auch wegen eines gewissen Musicals von Andrew Lloyd Webber, mit dem Stichwort „Pariser Oper“ das gewaltige Palais Garnier, auf das die Haussmann’schen Boulevards so effektvoll zulaufen. Dabei trat dieses Haus spät in die Geschichte ein, 1875, und hat die heroische Zeit gar nicht erlebt. Die fand statt an einem Ort, den heute niemand mehr kennt: Im Salle Le Peletier war die Opéra ab 1821 über 50 Jahre beheimatet. Rossinis „Wilhelm Tell“, Halévys „Die Jüdin“, die französische Version von Webers „Freischütz“, Verdis fünfaktiger „Don Carlos“, die französische Version von Wagners „Tannhäuser“ mit Ballett – sie alle wurden hier uraufgeführt, ganz zu schweigen von den Opern des damals bedeutendsten Pariser Komponisten: Giacomo Meyerbeer. Volker Hagedorn macht die Epoche in seinem Buch „Der Klang von Paris“ mit einer Mischung aus Fiktion und Historiografie lebendig.

Gegen die Bastille-Oper hab es Proteste

Das Schicksal des Le Peletier besiegelt 1873 ein Feuer. Da ist das neue Theater von Charles Garnier schon fast fertig. Napoleon III. wollte ein sicheres Haus, nachdem im Le Peletier ein Attentat auf ihn versucht wurde. Er stirbt allerdings, ohne den Neubau betreten zu haben. Die Opéra dominiert jetzt endgültig das Pariser Musikleben – und ist doch nur eine Facette davon, wenngleich eine besonders hell leuchtende. Die Opéra-Comique, an der mit „Carmen“ die beliebteste Oper aller Zeiten das Licht der Welt erblickt, weist eine völlig eigenständige Geschichte auf. Und die Operetten von Jacques Offenbach, dessen 200. Geburtstag in Paris vor Jubiläumseifer aus dem Blick geraten ist, sind zu jener Zeit an vielen Theatern zu sehen, nur nicht an der Opéra. Erst mit „Hoffmanns Erzählungen“, uraufgeführt an der Opéra-Comique, erobert sein Werk ein großes Haus.

Die Zahl bedeutender Uraufführungen an der Opéra geht nach 1900 signifikant zurück – was natürlich auch damit zu tun hat, dass jetzt generell nicht mehr so viele neue Stücke entstehen, die die Zeiten überdauern. Ins Auge fällt die Weltpremiere der von Friedrich Cerha komplettierten Fassung von Bergs „Lulu“ 1979. Ansonsten wird das Genre, wenn überhaupt, anderswo weiterentwickelt. In Paris baut man dafür neue Häuser: Die Bastille-Oper, entworfen von Carlos Ott, ist eines von Mitterrands „Grands Projets“, soll das Palais Garnier entlasten und – inmitten eines Arbeiterbezirks – Volksoper für alle sein. Geklappt hat das nicht, obwohl die günstigsten Tickets für 10 Euro gute Sicht ermöglichen. Das höhergestellte Bürgertum bleibt auch hier unter sich.

Eine Fotoausstellung im Foyer der Bastille-Oper erinnert an die Entstehung des Hauses. Wie es sich für eine Oper gehört, löste der Bau heftige Emotionen aus – nur nicht die erwünschten: Es gab wütende Proteste, Plakate schrien „Non á l’Opéra vandale!“. 350 Menschen mussten ihre Wohnungen räumen, Häuser aus dem 17. Jahrhundert wurden abgerissen. Man muss an den U-Bahnbau in Amsterdam denken, auch der wurde gegen Widerstand der Bevölkerung durchgesetzt, heute hängen Bilder demonstrierender Menschen in den Bahnhöfen.

1989 weiht Robert Wilson die Opéra Bastille mit einer Performance ein, im März 1990 folgt die erste echte Opernproduktion, „Les Troyens“. Berlioz’ großes Antikendrama war aus diesem Anlass jetzt in einer Neuinszenierung von Dmitri Tcherniakov wieder zu sehen. Ambitioniertestes Projekt der neuen Saison ist ein „Ring“ mit Musikdirektor Philippe Jordan und Regisseur Calixto Bieito. Für die Zukunft setzt Intendant Stéphane Lissner große Hoffnungen auf einen ungenutzten 1200-Quadratmeter-Raum im Inneren der Opéra Bastille, den er als experimentelle Spielstätte für bis zu 800 Besucher entwickeln will. Bauen, abreißen, neu bauen, umbauen: Das Rad der Geschichte dreht sich weiter, auch in Paris – einer Stadt, von der manche behaupten, dass sie in Schönheit erstarrt sei. Nicht nur Opernfans wissen, dass das großer Unsinn ist.

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