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Die schottische Schriftstellerin A.L. Kennedy

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A.L. Kennedys Essayband „Der Kern der Dinge“: Romantik, nahe am Abgrund

Die schottische Schriftstellerin hat ihr persönlichstes Buch geschrieben - und kritisiert darin auch ihr Heimatland aufs Schärfste.

Es ist ein bisschen ruhiger geworden um A. L. Kennedy. Durch den Brexit war die schottische Erfolgsautorin in ihrem Land in Ungnade gefallen, denn sie nahm kein Blatt vor den Mund, was sie von dem Austrittszirkus hielt. Auch danach polemisierte sie unablässig gegen ihr Land.

Das zahlte es zurück, indem ihre beiden letzten Bücher in Großbritannien nicht erschienen. Sie wiederum revanchierte sich, indem sie ihr geliebtes Haus in London verkaufte, ihre Zelte abbrach und in die USA floh, wo ihr ein Gönner im Bundesstaat New York in einer „Hütte“ im Wald Obdach gewährte.

Geschlagen von einer Covid-Infektion und langwierigen Long Covid-Beschwerden versuchte sie sich dort zu stabilisieren. Denn die Symptome manifestierten sich in einer Weise, die einer Schriftstellerin am meisten weh tut. „Ich vergesse ganze Sätze, verwandle andere in Unsinn, wenn ich mich nicht mehr recht entsinnen kann, was ich gemeint habe. Ich muss mehr umschreiben, viel mehr“, hebt sie in ihrem Essayband „Der Kern der Dinge“ an, der im neu gegründeten Zürcher Geparden-Verlag erschienen ist. Eine Folge früherer erquicklicher Zusammenarbeit, wie die Macherinnen Bettina Spoerri und Anne Wieser berichten.

 Ich vergesse ganze Sätze, verwandle andere in Unsinn, wenn ich mich nicht mehr recht entsinnen kann, was ich gemeint habe. Ich muss mehr umschreiben, viel mehr.

A. L. Kennedy nach ihrer Covid-Erkrankung

Das Buch, das in Deutschland kaum wahrgenommen wurde, in der Schweiz aber für kontroverse Aufmerksamkeit gesorgt hat, ist, das vorweggeschickt, ein Fragment, das seine Entstehungsgeschichte nicht verleugnet, sondern sie im Gegenteil minutiös mitprotokolliert.

Vielleicht kam sich Kennedy vor wie der einstige „Aussteiger“ Henry D. Thoreau, der sich 1845 in die Wälder zurückzog, um den zivilen Ungehorsam zu lehren. Oder wie Robert L. Stevenson auf seiner Südsee-Insel, der in Kennedys weitschweifigen Überlegungen zur Literatur – und als Motivgeber für die in das Buch eingebettete Fabel – eine prominente Rolle spielt. Das von Beckett entliehene und vorangeschickte Motto: „Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.“, gibt dem Konvolut die Richtung. „Ich versuche, das Herz der Dinge zu finden – den Kern“, erklärt die Autorin den Titel.

So erzählt sie bruchstückhaft über ihre Kindheit und Jugend in gewalttätigen Verhältnissen, geprägt von einem Vater, der seine Macht als Psychologe zu nutzen wusste, und vom geliebten Großvater Solomon, der ihr die Angst abtrainiert. Dieser dient als Vorlag für die Fabel, eine märchenhafte Geschichte über die Liebe zwischen einem Vater und seiner mutterlosen Tochter angesichts katastrophischer äußerer Verhältnisse. Diesen eingewebten Erzählfäden nimmt Kennedy in ihren essayistischen Betrachtungen über Literatur auf, reflektiert über die Möglichkeiten, eine Geschichte voranzutreiben, sie immer wieder umzuschreiben, angesichts ihrer eingeschränkten Kapazitäten.

In der Metapher des „Gesprenkelten“ fängt Kennedy das Anderssein und die Andersheit ein, das Dazwischenstehen, egal ob es sich um sexuelle Identität oder politischen Haltung handelt. Ingeborg Bachmann hat für diesen Nicht-Ort die Wüste ausgeleuchtet, andere Autor:innen haben sich an den „Rändern“ angesiedelt oder im „Dazwischen“. Nichts wirklich Neues also, hier aber neu verhandelt durch krankheitsbedingte Schnitte und politische Versehrungen.

Von diesem Nicht-Ort, geografisch und literarisch, schießt Kennedy brachial gegen ihr Land, und der Furor zeugt vom Schmerz des Verlusts. Ihre gelegentlich schmerzhaft kruden Auslassungen, in denen der Begriff Faschismus ausgiebig Platz findet – „der Abstieg meines Landes in Variationen von Faschismus“, belegt dies zusammenfassend – sind Ausfluss eines Monologs in isolierter Rückzugsposition, der auch durch fiktive Leseransprachen kaum dialogisch wird. Aber sie stellt manchmal auch richtige Fragen wie: Hätte in Großbritannien ein besseres Bildungssystem geholfen?

Kennedy weiß um ihre Privilegien

Kennedy ist eine kluge Frau, sie weiß um die Privilegien, die sie genießt. Zwar fühlt sie sich auf unsicheren Reisen wie ihre Protagonisten in der Fabel: „Ich bin ein treibendes Schiff. Ich bin eine Passagierin, die gerade entscheidet, wo es am sichersten ist, von Bord zu gehen … sicherer vor einer Regierung, vor der Klimakrise, vor irren Nebenkosten und bröckelnden Einkünften.“

Vom Geldverdienen ist oft die Rede. Aber bewusst ist Kennedy auch, dass die, die über‘s Mittelmeer kommen oder von wo anders her unter ganz anderen Bedingungen reisen. Was die Autorin kann, ist höchstens zu schreiben und Hoffnung denen zu geben, die sich auf den Weg machen. Eine „gute Geschichte“ sei der „Weg eines liebenden Herzens als auch ein Weg liebender Herzen.“ Romantik, so nah am Abgrund, liest man selten.

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