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Vorsichtiges Herantasten in der Schering Stiftung.

© Ink Agop

Anfassen erwünscht: Wie eine VR-Ausstellung die eigenen Sinne hinterfragt

In ihrer Ausstellung „Materialism of Indeterminacy“ setzen die ukrainischen Künstlerinnen Angelika Dobreva und Alisa Kolodub das „Manifest der Taktilität“ von Tomazzo Marinetti auf faszinierende Weise in Skulpturen um.

Ein junger Mann tastet ein wenig nervös nach der weißen Tischdecke, die vor ihm liegt: „Ist das wirklich eine Tischdecke oder ist das nur meine Einbildung?“. Schließlich ist er, wie mehrere hundert andere Menschen auch, gerade zu der Überzeugung gelangt: Die Informationen über die Welt um uns herum, die wir mit unserem Sehvermögen wahrnehmen, sind unvollständig. Und manchmal fehlerhaft. Um ein vollständigeres Bild von der Welt zu erhalten, sollten wir sie deshalb auch mit unseren Fingerspitzen berühren.

In der Schau "Materialism of Indeterminacy" von Angelika Dobreva und Alisa Kolodub im Ausstellungsraum der Schering Stiftung Unter den Linden tauchen die Besucher:innen in eine virtuelle Realität ein, die ihre taktilen Sinne anregt. Sie können sechs Skulpturen erkunden. Es handelt sich um kugelförmige Objekte in Globusgröße, die auf Sockeln in Augenhöhe angebracht sind. Die Kugeln bestehen aus verschiedenen Materialien, sind mal rau, mal zart, mal kalt, mal warm: aus Sandpapier, Metall oder Plüsch.

Gleichzeitig ist das, was man sieht, aber dank der VR-Brille, die man beim Ausstellungsbesuch trägt, nicht dasselbe wie das, was man anfassen kann. Wer versucht, die Skulptur vor sich zu berühren, spürt zunächst nur Leere. Die Skulptur scheint leicht im Raum verschoben zu sein. Aber die anfängliche Freude, sie zu finden, wird schnell von Überraschung und Unbehagen abgelöst. Spoiler: Anstatt des erwarteten runden Objekts, ertastet man menschliches Haar.

Wo bleibt die Kunst zum Schmecken und Anfassen?

So lernen die Besucher:innen der Ausstellung die Skala der Berührung kennen, die der futuristische Ideologe Filippo Tommaso Marinetti 1921 in seinem Manifest Il Tattilismo (Taktilismus) beschrieben hat. Es handelt sich um eine taktile Skala, ähnlich dem Spektrum in der Malerei. Nach Marinettis Plan sollte es von sogenannten Tastkünstlern verwendet werden – als solche bezeichnen sich auch Dobreva und Kolodub. Doch diese Idee setzte sich im Gegensatz zu seinen früheren futuristischen Experimenten in der Praxis nicht durch. „Taktilismus“ wurde nicht zu einer eigenständigen Kunstform.

Die ukrainischen Künstlerinnen Angelika Dobreva und Alisa Kolodub fragen sich: Warum ist das so? „Es ist einfach unfair - wir genießen Kunst, indem wir nur das Sehen und Hören einsetzen. Zwei von fünf Sinnen“, sagt Dobreva beim Gespräch während der Ausstellungseröffnung. Geruch und Geschmack seien dagegen kommerzialisiert: Sie werden durch Parfümerie und Gastronomie befriedigt. Doch was ist mit Kunst zum Schmecken und Anfassen? Die beiden jungen Künstlerinnen aus Kyjiw, die vor einem Jahr vor dem russischen Angriffskrieg nach Berlin geflohen sind, haben beschlossen, diese Lücke zu füllen.

Die Künstlerinnen Angelika Dobreva und Alisa Kolodub kamen nach Kriegsbeginn von Kyjiw nach Berlin.

© Valeriia Semeniuk

Sie betonen dabei: „Wir sind keine Futuristinnen!“ Trotz ihres jungen Alters – Dobreva ist 28, Kolodub 25 – träumen sie nicht von einer Revolution in der Kunst. Sie rebellieren auch nicht gegen herkömmliche Methoden und Genres. Schließlich sind ihre kugelförmigen Skulpturen interessant genug, um sie nicht nur mit der VR-Brille zu ertasten, sondern sie auch – auf die „altmodische“ Art – mit den Augen zu betrachten. „Zum Glück muss man heute nichts mehr verleugnen, um den Weg für etwas Neues in der Kunst zu ebnen. Im Gegenteil: Die moderne Medienkunst entwickelt das, was bereits erfunden wurde, mithilfe neuer Technologien weiter“, sagt Angelika Dobreva.

Abgesehen von einigen Performances und Gruppenausstellungen, an denen sie in Kyjiw teilnahmen, war die Kunst für die beiden bisher eher ein Hobby. Ihren Lebensunterhalt verdienen sie nach wie vor mit Computerdesign. Was sie in Berlin am meisten beeindruckt, ist die Nachfrage nach jungen Künstler:innen, die mit neuen Medien arbeiten, und die große Anzahl an Fördermöglichkeiten. „In der Ukraine hatten wir unsere eigene Community, unsere eigene Medienkunstschule. Ich würde nicht sagen, dass wir am Rande von Europa standen“, sagt Alisa Kolodub. „Aber in der Regel hatten nur namhafte Künstler die Möglichkeit, eine Förderung zu erhalten, für junge Künstler war es schwer, den Durchbruch zu schaffen.“

Die Künstlerinnen denken bereits über ihr nächstes Projekt für die Schering Stiftung nach: Da ihr Fokus auf Projekten an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Kunst liegt, wollen sie lebendige, natürliche Strukturen greifbar werden lassen. Vielleicht sogar in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern. Kolodub sagt: „Wir hoffen, dass wir, wenn wir hier weiter gefördert werden, als Künstlerinnen gefördert werden und nicht aus Mitleid, weil wir Geflüchtete sind.“

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