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Aras Ören in „Frau Kutzer und andere Bewohner der Naunynstraße“ von 1973.

© Friedrich Zimmermann und Aras Ören, BRD 1973

Aras Örens Naunynstraße-Filme: Berliner Stadtgeschichte aus türkischer Perspektive

Filme aus der Exil-Erfahrung finden selten Eingang in die nationalen Archive. Auch darum sind die Kreuzberg-Porträts von Aras Ören unschätzbar wertvoll.

Von Till Kadritzke

Eine deutsche TV-Produktion, wie man sie heutzutage kaum sieht: Aus dem Off werden Texte vorgelesen, die eindeutig literarischen Charakter haben, sie beschreiben die Gedanken und Träume einiger Bewohner*innen Kreuzbergs in den 1970-er Jahren. Diese Gedanken und Träume werden durch Straßenszenen illustriert, dazwischen sind dokumentarische Aufnahmen einer Demo und Interviews mit Leuten von der Straße geschnitten.

Der einstündige Film, der sich kaum kategorisieren lässt, heißt „Frau Kutzer und andere Bewohner der Naunynstraße“ und wurde 1973 unter der Regie von Friedrich Zimmermann für den Sender Freies Berlin (SFB) gedreht; der literarische Text stammt aus dem epischen Gedicht „Was macht Niyazi in der Naunynstraße” von Aras Ören. Ören, der 1969 aus der Türkei nach Deutschland zog, gilt heute als eine der zentralen Figuren der deutsch-türkischen Literatur, auch aktuelle post-migrantische Interventionen nehmen immer wieder auf ihn Bezug. Kürzlich hat der Verbrecher Verlag seine drei Poeme aus den 1970er Jahren als „Berliner Trilogie” neu aufgelegt.

Weniger bekannt sind Örens vielfältige Beziehungen zum Film. Er war Schauspieler und Filmautor, seine Texte wurden von deutschen wie türkischen Filmemacher*innen immer wieder aufgenommen. Und er war eng beteiligt an Produktion und Regie der TV-Fassungen seiner beiden ersten Poeme, die am heutigen Donnerstag im Sinema Transtopia gezeigt werden.

Das neue Kinoprojekt nahe des S-Bahnhof Wedding führt damit seine Bergungsarbeiten im Archiv deutscher Film- und Fernsehgeschichte fort. Denn die Naunystraßen-Filme sind nicht nur aufregende ästhetische Experimente, sondern auch viel zu wenig bekannte Dokumente Berliner Stadtgeschichte aus der Perspektive der Migration.

Szene aus der schwedisch-finnischen Ko-Produktion „Ulkomaalainen (Ausländer)„ von Muammer Özer.

© Muammer Özer

Der Abend ist Teil der Reihe „Cinemas of Relocation”, die gemeinsam vom türkischen Kurator Ahmet Gürata und dem schwedischen Filmwissenschaftler John Sundholm gestaltet wurde. Sie versammelt Filme von Menschen, die in den 1970-er und 1980-er Jahren aus politischen Gründen nach Westdeutschland oder Schweden geflohen sind – nicht nur aus der Türkei, sondern auch aus Kolumbien, Griechenland oder Peru.

Gemein sind den gezeigten Filmen, dass die Erfahrung von Migration und Exil nicht nur als Thema verhandelt werden, sondern auch Einfluss auf die oftmals prekären filmischen Praktiken selbst hatten. So gründete der Kolumbianer Guillermo Alvarez in Schweden eine eigene Genossenschaft, um seine Filme zu realisieren, das Werk seines „Cinecooperativo” ist am 8. März zu sehen.

Solidarität als Fluchtpunkt

Auch die türkische Regisseurin Ayten Kuyululu verschlug es Anfang der 1970-er Jahre zunächst nach Schweden, dann weiter nach Australien. Am 9. März läuft ihr Film „Golden Cage”, der erste von einer Frau gedrehte australische Film seit den 1930-er Jahren. Am Abschlussabend am 11. März zeigt das Sinema neben zwei kürzeren Filmen auch Tuncel Kurtiz’ Dokumentarfilm „Gastarbeiterstraße”, der die transeuropäische Autobahn zwischen der Türkei und Deutschland porträtiert – und damit auch die gefährlichen Reisen, die jeden Sommer auf ihr stattfanden.

Den hier gezeigten Filmen ist die migrantische Erfahrung also jeweils eingeschrieben, sie lassen sich aber nicht auf Filme von oder über Migrant*innen reduzieren. Gerade Örens Poeme, in ihrer literarischen wie in ihrer filmischen Form, zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Erfahrungen und Träume der Gastarbeiter*innen mit denen alteingesessener Berliner*innen in Bezug bringen. Das Setting ist ein konfliktbehafteter, aber selbstverständlich geteilter Raum, und der Fluchtpunkt bleibt stets die Solidarität – der kapitalistische Ausbeutung und rassistische Ressentiments im Wege stehen. Eine selten gewordene Perspektive auf die deutsche Gesellschaft, die da vor 50 Jahren im Fernsehen zu sehen war.

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