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Marcel Proust, undatiert.

© imago/Leemage

Aus dem Proustbetrieb: Die realen Verwandten von Françoise

Über das mitunter produktive, mitunter verwirrende Miteinander von Wahrheit und Fiktion in der „Suche nach der verlorenen Zeit“.

Es ist eine seltsame Stelle, auf die man bei der Lektüre des letzten Bandes der „Recherche“ stößt. Sie gehört zu den nicht so wenigen Stellen in Marcel Prousts Werk, in denen die Grenzen von Wirklichkeit und Fiktion verschwimmen. Nur wird das in dieser Passage ausdrücklich negiert, dass es diese Vermischung gibt.

Um Françoise geht es wieder einmal, die Haushälterin des Erzählers, um ihre Einstellung zum Ersten Weltkrieg und dass gerade einer ihrer Neffen umgekommen ist. Er hinterlässt Frau und Kind in bitterer Armut. Doch gibt es „millionenschwere“ Verwandte von Françoise (dass sie die hat, davon erfährt man hier das erste Mal), die der Frau des Toten unter die Arme greifen und ihr helfen, das kleine Café ihres Mannes fortzuführen. „Fast drei Jahre“ kellnern sie dort nun schon, unentgeltlich. Das ist zwar eine ziemlich unglaubwürdige Geschichte, aber gut: Proust geht es um Frankreich, die Solidarität in Kriegszeiten.

Keine wirklichen Personen in der „Recherche“?

Der Erzähler (wohl eher: der Autor) meint im Anschluss daran erwähnen zu müssen: „In diesem Buch, in dem keine einzige Tatsache berichtet wird, die nicht erfunden ist, in dem es keine einzige Gestalt gibt, hinter der sich eine wirkliche Person verbirgt, in dem alles und jedes je nach Maßgabe dessen, was ich demonstrieren will, von mir erdacht worden ist, muss ich zum Preis meines Landes sagen, dass die Millionärsverwandten unserer Françoise, die ihre Zurückgezogenheit aufgegeben haben, um ihrer schutzlosen Nichte zu helfen, die einzigen Personen sind, die tatsächlich existieren.“

Der Name der Verwandten wird dann genannt, Larivière, „weil sie dieses Buch niemals lesen werden.“ Dabei handelte es sich im richtigen Leben tatsächlich um Verwandte von Prousts Haushälterin Céleste Albaret. Aber „keine einzige Gestalt“ in der „Recherche“, „hinter der sich eine wirkliche Person verbirgt“? Das ist kokett geschwindelt, man denke an Swann, die „Dame in Rosa“ (Odette), Charlus und einige andere Figuren, in die Züge und Charaktereigenschaften realer Personen eingeflossen sind.

Klarnamen hat Proust vermieden. Doch gibt es sie, nämlich wiederum im Umfeld der Dienerinnenschaft. In den Bänden „Sodom und Gomorrha“ und in „Die Gefangene“, lässt er eben jene Céleste Albaret und ihre Schwester Marie namentlich auftreten, als zwei Schwestern, die „als private Bedienung einer alten ausländischen Dame nach Balbec gekommen waren.“

Ob Proust bei der Erwähnung der beiden ebenfalls gedacht hat, sie würden sein Werk nie lesen, allein ihrer bescheidenen Herkunft wegen? Was bei Céleste Albaret zumindest eine falsche Annahme war. Auszüge der „Recherche“ hat sie gut gekannt, schenkt man ihren Erinnerungen Glauben, die sie dem Journalisten Georges Belmont ein Jahrzehnt vor ihrem Tod 1984 diktiert hatte.

Natürlich hat Proust auch sich selbst immer mal wieder ganz real in die „Recherche“ geschleust. In der „Wiedergefundenen Zeit“ etwa spielt er auf eine seiner Ruskin-Übersetzungen an, und so erstaunt jene obige Stelle in ihrer Widersprüchlichkeit umso mehr. Aber Vorsicht ist immer geboten, bei Fiktionen genauso wie bei Autofiktionen.

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