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Tango-Tänzer in der Filminstallation „Dreams Have No Titles“ von Zineb Sedira.

© Zineb Sedira

Ausstellung im Hamburger Bahnhof: Im Wiegeschritt zum Befreiungskampf

Mit ihrer Filminstallation galt Künstlerin Zineb Sedira als Favoritin für den Goldenen Löwen in Venedig. Jetzt ist Frankreichs Biennale-Beitrag in Berlin zu sehen.

Die Szene prägt sich ein wie keine andere. Ein Paar tanzt Tango in einem leeren französischen Bistro, bis die Frau affektiert die Tanzfläche verlässt, weil ihr Partner sie zum zweiten Mal versucht hat, auf den Hals zu küssen. Die Szene wiederholt sich mehrfach: Real im Ausstellungssaal des Hamburger Bahnhofs, wo sich zwei professionelle Tänzer elegant übers Parkett bewegen bis zum Eklat. Dann in Ettore Scolas berühmtem Film „Le Bal“ von 1983, der als Ausschnitt zu sehen ist, und schließlich als Remake mit Zineb Sedira in der Rolle der kühl abweisenden Tänzerin.

Das hier ist ihr großer Auftritt, denn mit der immersiven Filminstallation „Dreams Have No Titles“ gibt die algerisch-französische Künstlerin nicht nur den zentralen Szenen in für sie wichtigen Filmen ein facettenreiches Forum, sondern sie verwebt darin auch ihre eigene Geschichte: die diasporische Erfahrung, die Geschichte vom algerischen Befreiungskampf und Rassismus, von Versuchen einer Dekolonisierung und dem Glück der Freundschaft, des Tanzes und des Gesprächs.  

Als Zineb Sediras Installation im vergangenen Jahr zum ersten Mal auf der Biennale in Venedig im französischen Pavillon zu sehen war, besaß sie selbst etwas von einem Traum mit den nachgebauten Filmsets und der aus London herbeigeschafften Wohnzimmereinrichtung der Künstlerin. Das Publikum fühlte sich unmittelbar eingesponnen von den Klängen, der Atmosphäre eines Filmstudios, dem zauberischen Moment, wenn die Tangotänzer auf einmal die Szene betreten. Sofort galt der französische Pavillon als Favorit für den Goldenen Löwen. Bekommen hat er zumindest eine „lobende Erwähnung“.

Sam Bardouil und Till Fellrath, den beiden seit Januar 2022 amtierenden Direktoren des Hamburger Bahnhofs, gelang damit 2022 ein Tripleschlag. In Berlin brachten sie das Museum für Gegenwartskunst gut an den Start bis hin zur endgültigen Rettung der Rieck-Hallen. In Lyon wuppten sie ab Sommer eine gewaltige Biennale. Und in Venedig kuratierten sie zusammen mit der Ausstellungsmacherin Yasmina Reggad einen der meistbeachteten Pavillons. Davon profitiert nun nochmals Berlin. Die fast intime Version aus den Giardini hat das Direktorenduo nun als große Schau in ihre eigene Institution geholt.

Es rührt, wie Sam Bardaouil wie schon zuvor bei anderen Eröffnungen betont, der Hamburger Bahnhof solle für alle da sein als ein Ort der Toleranz. Der zentrale Film von Zineb Sediras Installation, den man sich auf hölzernen Kino-Klappstühlen anschauen kann, gibt eine Lektion. Der aus dem Libanon stammende Sam Bardaouil spielt darin eine kleine Rolle mit nacktem Oberkörper und erhobenen Armen. „Steh auf, Araber!“ wird er aus dem Off angeschnauzt.

Filmset in der Installation „Dreams Have No Titles“ von Zineb Sadira.
Filmset in der Installation „Dreams Have No Titles“ von Zineb Sadira.

© Thierry Bal

Die Szene könnte aus Viscontis Film „Der Fremde“ oder Gino Ponzecorvos „Schlacht um Algier“ aus den 1960ern stammen, die ebenfalls in Zineb Sediras Hommage an das „cinéma militante“ vorkommen. Film diente in dieser Zeit als ein Vehikel für den Befreiungskampf. Zineb Sedira wuchs mit ihnen auf. Ihre Eltern waren aus Algerien nach Frankreich ausgewandert, wo sie geboren wurde. Zum Studieren ging die Künstlerin nach London, wo sie heute noch lebt.

Wie sich diese Migrationsbewegungen ins Familienleben einprägen, war in der Biennale-Version von „Dreams have no title“ zu erleben. Darin traten auch die Eltern der Künstlerin auf und ihre Tochter, die nicht mehr die gleiche Sprache sprechen und Verständigungsschwierigkeiten haben. Bei ihrer nächsten Ausstellungsstation 2024 in der Whitechapel Gallery in London dürften nochmals andere Erfahrungen und Begegnungen in den Film eingehen.  

Unverändert wird der Abspann bleiben mit einer tanzenden Zineb Sedira im gelben Vintagekleid vor gelbem Hintergrund. Tanz ist für sie eine Form des Widerstands, um Gemeinschaft aufzubauen, zugleich eine Möglichkeit des Loslassens. Sogar das Publikum darf tanzen und sich wie die beiden Tangotänzer zu den Klängen aus einem alten Radio bewegen, das hinter dem Tresen steht.

Wie die Schuhe, die Zineb Sedira zum gelben Kleid trägt, die Tangotänzer, der Tresen kommt auch dieses Objekt in Film und Ausstellung vor. Und doch geht es um mehr, denn das Radio war im Befreiungskampf Algeriens die einzige Möglichkeit, um über Auslandssender zu erfahren, wie es um das eigene Land bestellt ist.  

Film, Setting, das Schicksal Sediras und ihrer Familie verweben sich in der Ausstellung zu einer poetischen Einheit. Das Private und das Politische, die Mikro- und die Makroperspektive verschränken sich ineinander. Die französisch-algerische Künstlerin lässt in aller Offenheit an ihrem Leben teilhaben und rückt doch gleich zu Anfang ihres Films auf Abstand mit einem Auftritt von Orson Welles, der erklärt, alles sei Betrug, keine Geschichte stimmt.

Plötzlich fällt das große Filmregal gleich zu Anfang der Ausstellung wieder ein, das einer Kulisse aus Orson Wells‘ Film „F wie Fälschung“ nachempfunden ist. Die vielen blechernen Filmdosen in dem Archiv sind ein Versprechen. Die eine Wahrheit bergen sie nicht.

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