zum Hauptinhalt
Renée Felden (Mitte) in „Die Deutschen und ihre Männer – Bericht aus Bonn“, BRD 1989, Regie: Helke Sander.

© Deutsche Kinemathek/Sander

Berlinale-Retrospektive „Das andere Kino“: Avanti Dilettanti

Gastarbeiter, Nachtarbeiter und Powerfrauen. Die aus dem Archiv der Deutschen Kinemathek bestückte Retrospektive zeigt einen Querschnitt des unabhängigen Filmschaffens.

Von Kerstin Decker

„Das andere Kino“ verspricht die diesjährige Retrospektive. „Anders“ ist natürlich ein Verlegenheitswort. Wie anders also? - „Abseits vom Kanon“, sagt Annika Haupts von der Deutschen Kinemathek, die zusammen mit Rainer Rother die 23 Filme der Retrospektive aus fast 200 ausgewählt hat. Nur wer definiert den Kanon? Annika Haupts nimmt Anlauf und zögert doch. Nein, noch hat keiner den Kanon kanonisiert.

Anders also: Unbekümmert um Zuschauererwartungen, jenseits kommerzieller Interessen. Independent-Kino, das an neue Filmsprachen glaubt sowie an das Recht des Experiments. Ein Kino, dass die Geduld des Zuschauers voraussetzt und lustvoll mit dem eigenen Dilettantismus rechnet. Kino also, das (fast) keiner kennt?

Hier ein paar Titel zum Selbsttest: „Banale Tage“, „Macumba“, „Jesus - Der Film“. „Kismet, Kismet“, „Herzsprung“. Gewöhnlich liegt die Verbindung zwischen den Filmen einer Retrospektive schon im Thema, hier nicht.

Was den Zuschauer erwartet, könnte unterschiedlicher nicht sein, doch, das sind mehr oder minder rote Fäden, die die Filme verbinden. Vom unabhängigen Kino lässt sich erst seit den 60er Jahren in der alten Bundesrepublik sprechen, sagt Annika Haupts. Die Gesellschaft fächert sich gewissermaßen auf und mit ihr das Kino.

Nachts am Flughafen Tempelhof

Nehmen wir die Nacht-Filme. Einer der frühesten Werke der Retrospektive ist „Die endlose Nacht“ von Will Tremper 1963: Wegen Nebels verbringt ein Dutzend verhinderter Passagiere die Nacht auf dem Flughafen Tempelhof. Wenn sie sich nicht ärgern oder schlafen, reden sie - aber anders als bei Tage, zumal die Zeitblase entlastet. Ein mitternächtlich-improvisiertes Gesellschaftsporträt entsteht.

Dass die Nacht ein Raum eigener Ordnung ist, oder vielmehr ihrer Auflösung, „in der sich die Dinge neu zusammensetzen“, weiß fast dreißig Jahre später auch Eva Hiller in ihrer schönen intensiven Mondschein-Meditation „Unsichtbare Tage oder Die Legende von den weißen Krokodilen.“

Hardy Krüger und Loni von Friedl, in „Zwei unter Millionen“, BRD 1961, Regie: Victor Vicas, Wieland Liebske.
Hardy Krüger und Loni von Friedl, in „Zwei unter Millionen“, BRD 1961, Regie: Victor Vicas, Wieland Liebske.

© Deutsche Kinemathek

Wer danach noch immer nicht an den Raum-Charakter der Nacht glaubt, kann sich einen der Häuser-Filme ansehen. Haus ist der konventionelle Name für ein eigenes Universum, was vor allem dann entsteht, wenn man es nicht mehr verlässt. So wie Hanno Giessen, letzter Repräsentant einer Berliner Hutfabrikantendynastie, der soeben Pleite gemacht hat und im Konkurs die Chance seines Lebens entdeckt. Gibt es nicht ein bislang verkanntes Menschenrecht auf Faulheit?

Die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft glaubte 1974, als Ulrich Schamoni „Chapeau Claque“, diesen wunderbar-skurrilen Selbsttest (als Hauptdarsteller und Regisseur) in der ererbten Grunewald-Villa drehte, offenbar nicht daran. Sie verwehrte dem Werk die Jugendfreigabe wegen schwerwiegender „Verleitung zum Nichtstun“. Schamoni kommt im Bademantel durch den ganzen Film.

Elfi Mikeschs „Macumba“

Die bekennenden Nichtstuer in Elfi Mikeschs „Macumba“ hingegen bewohnen keine Villa, sondern ein Abbruchhaus, dem schon verschiedene Wände fehlen, was ihrem Recht auf Nichtsstun eine leicht alptraumhafte Note gibt, die die Regisseurin immer weiter treibt, Auftritte surrealer Figuren inklusive. Möglicherweise lässt sie dabei – nach vielversprechendem Beginn – den ein oder anderen Zuschauer hinter sich.    

Ohne Zweifel vertreten die „anderen Filme“ auch andere Positionen als die Mehrheitsgesellschaft. Das ist besonders gut zu studieren in dem marxistischen Kriminalfilm „Fegefeuer“ von Haro Senft 1971. Der Zeuge der Entführung eines Palästinensers beschließt, den Entführten auf eigene Faust zu befreien, weil die Polizei nichts tut. Überwältigend dilettantisches Weltanschauungskino, unterbrochen von scharfen Schnitten in Baumkronen, Militärparaden und Papstbesuche, ein Lehrfilm darüber, wie man es nicht machen sollte – aber allemal ein interessantes Zeitdokument.

Feministische Filme von Helke Sander

Am Rand der Gesellschaft befindet sich seit je auch der feministische Film: In „Dark Spring“ von Ingemo Engström 1970 sprechen Frauen über Männer, ihre eigenen und andere. Zwanzig Jahre später spricht eine Frau mit Männern in „Die Deutschen und ihre Männer – Bericht aus Bonn“ von Helke Sander. Die Spezies hat sich in der Zwischenzeit wenig verändert.

Ein Spezialfall des feministischen Kinos ist der Interviewfilm „Ich“: Eine Regisseurin wird befragt, weil sie mit ihrem Erstling, gemacht aus nur einer Einstellung, neue Maßstäbe gesetzt hat, so neu, dass Wilma Wenders und Lucie Godard ihre nächsten Filme über sie drehen wollen. Im Abspann steht: „Ich danke der internationalen Kritik für die Fragen und Jim Jarmusch für die Antworten.“

Hella von Sinnen spielt mit

Das Ganze dauert 18 Minuten, Hella von Sinnen spielt Szenen aus der Jugend des Genies, gezeigt wird die soeben digital restaurierte Fassung des absurden Kleinods von Bettina Flitner, die ihren Weg inzwischen als Fotografin gegangen ist. Wie man mit einem neuen Super-8-System Jean-Luc Godard nach Deutschland lockt, verrät „Der kleine Godard“ von Hellmuth Costard.

Gleich zwei Filme blicken in die Welt türkischer Gastarbeiter in Deutschland, einmal ist Helma Sanders-Brahms die Regisseurin („Shirins Hochzeit“), das zweite Mal ein Gastarbeiter selbst, der nur einen Traum hat: selber Filme machen. Nach „Kismet, Kismet“ darf zumindest als gesichert gelten, dass hier kein Genie übersehen wurde.

Das Gleiche gilt auch für die 22 Regisseure des Werks „Jesus – Der Film“ von 1986. Der Westberliner Underground hat sich des Neuen Testaments angenommen: trotz manch schräger Blasphemie handelt es sich um ein überaus strapaziöses, monotones Werk. Trash ersetzt Form? Monty Pythons ultimativer Jesus-Film „Das Leben des Brian“ hatte damals längst gezeigt, wie ein Verhältnis optimaler Ergänzung aussieht. Das ignoriert auch Christoph Schlingensief in „Das deutsche Kettensägenmassaker“, seinem Kommentar zur deutschen Wiedervereinigung.

Die Ost-Filme der Retrospektive fallen allesamt aus der Reihe, das dilettantische Moment fehlt hier, sowie der Gestus des Autorenfilms, die Leidensfähigkeit des Zuschauers zu testen. Frank Vogels „Denk bloß nicht, ich heule“ kam wohl nur ob seines Verbots 1965 in die Auswahl, Thomas Braschs strenger „Engel aus Eisen“ von 1980, bereits im Westen gedreht, ist unbedingt sehenswert. Am überwältigendsten ist vielleicht Helke Misselwitz’ Spielfilmerstling „Herzsprung“ von 1992: Was für eine explosiv-poetische Verdichtung des Lebens im unmittelbaren Nachwende-Osten, gedreht noch vor den Anschlägen von Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false