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Klang-Artisten. Deutsches Symphonie-Orchester und Zirkus Roncalli spielten gemeinsam im Tempodrom.

© Kai Bienert

Berliner Silvesterkonzerte: Tschingderassabum!

Taktstock und Trapez: eine Rundschau auf Berliner Silvesterkonzerte von Staatskapelle, DSO, RSB und Konzerthausorchester.

Manch einer will in den letzten Stunden des alten Jahres noch ganz schnell etwas loswerden: Liebe, Geld, Vorsätze. Oder alten Wein. Der wurde beim Silvesterkonzert der Staatsoper ohne mit der Wimper zu zucken ins Glas verkauft, ein müde gewordener deutscher Weißer. Und so fühlte sich zunächst auch die Stimmung im Haus an, dabei wollte Daniel Barenboim dieses Mal alles ganz anders machen: Nicht Beethovens Neunte sollte ihre Götterfunken stieben lassen, sondern die Glut des Tangos im Schillertheater lodern. Die Musik seiner Geburtsstadt Buenos Aires, dieses herzzerreißende Amalgam aus geplatzten Einwandererträumen, spielt der Staatskapellen-Chef selbst leidenschaftlich gerne. Ein besseres Argument für die Programmwahl gibt es eigentlich nicht. Das findet Barenboim sichtbar auch und zeigt sich leicht pikiert, als das Publikum nicht aus dem Stand Feuer fängt.

Dabei heißt die erste Nummer, ein subtiler Orchestertango von Altmeister Horacio Salgán, übersetzt „Auf kleiner Flamme“. Das passt. Tatsächlich braucht die Staatskapelle ihre Zeit, um mit dem ungewohnten Idiom warm zu werden. Keine Frage: Beethoven wäre die kleinere Herausforderung für dieses Orchester gewesen. Die fragile Mixtur aus rhythmischer Festigkeit und melodischer Freiheit will Einsinken in jede Körperfaser – und nicht vom Blatt gegeigt werden. Barenboim selbst zeigt zu Beginn der zweiten Halbzeit, wie man einen Erfolg inszeniert: Am Klavier spielt er Astor Piazzollas Cadenza für „Adiós Nonino“, dann folgt ihm die Staatskapelle in beseelter Melancholie durch die Straßen am Río de la Plata.

Slapstick frei nach Mister Bean

Solch einen Tränenmoment will auch Rolando Villazón setzen, der für den Jahreswechsel in die Rolle von Carlos Gardel schlüpft – jenes ultimativen Tango-Sängers, dessen Unfalltod 1935 eine Serie von Selbstmorden auslöste. Seine Lieder zu interpretieren haben schon einige Klassik-Granden versucht, alle mussten sie scheitern. Wobei Villazón, geschickt mit dem Mikrofon hantierend, eher sein Naturell im Weg steht. Die ganz große Träne oder der entfesselte Spaß, darin ist er allen Stimmkrisen zum Trotz noch immer groß. Doch Tango tanzt nicht auf ironischem Parkett. Trotzdem muss Villazón das einfach noch loswerden: einen Slapstick frei nach Mister Bean mit dem letzten Blumenstrauß des Jahres. Der war aber auch absurd hässlich. Ulrich Amling

Das DSO und der Zirkus Roncalli.

Pure Leichtigkeit bestimmt den Silvester-Beitrag des Deutschen Symphonie-Orchesters, eine immer wieder poetisch aufgeladene Unterhaltsamkeit, die im glitzernden Tempodrom Jung und Alt verzaubert. Dahinter steckt knallharte Präzisionsarbeit: Aus Hunderten „zirkustauglicher“ Musikstücke suchten die Artisten des Zirkus Roncalli diejenigen aus, auf die sie ihre Clownerien, halsbrecherischen Sprung-Kaskaden und gen Himmel schwebenden Trapeznummern maßschneidern konnten. Selten ist eine solche Übereinstimmung zwischen musikalischen und visuellen Bewegungsabläufen zu erleben.

Vielleicht auch deshalb, weil der junge Däne Thomas Søndergård, gelernter Schlagzeuger und derzeitiger Chefdirigent des BBC National Orchestra of Wales, das Orchester vor allem rhythmisch im Griff hat. So wird die Jongleursnummer des 18-jährigen Ty Tojo zu den gemeißelten Rhythmen aus Alberto Ginasteras „Estancia“ zum schwindelerregenden Höhepunkt des Programms – quirliger Gegenpol zum zärtlich-erotischen Trapezballett des Artistenduos „Avital und Jochen“ zu Prokofjews „Roméo und Juliette“, das so manchem traditionellen Pas des deux das Wasser reichen kann. Kleine Angstmomente – fängt er sie in letzter Sekunde? – erhöhen noch den Reiz: Virtuosität zeigt sich hier nicht als präzise abschnurrende Maschinerie, sondern als menschliche Grenzüberschreitung, etwas Existenzielles.

Keine Angstmomente bei James Ehnes

Angstmomente kann es bei James Ehnes nicht geben – in Pablo de Sarasates „Zigeunerweisen“ zeigt sich der Kanadier als unfehlbarer „Teufelsgeiger“, ist der rasanten Motorik mit jedem Griff, jedem Bogenstrich souverän gewachsen. Und doch ist auch das keine leere Perfektion oder flache Unterhaltung, sondern sprüht vor musikantischem Temperament.

Und das Orchester brilliert nicht nur bei William Waltons fetziger „Scapino“-Ouvertüre vor allem mit strahlenden Blechbläsern, sondern vor allem mit einer Konzertouvertüre von Karol Szymanowski, welche mit den Errungenschaften eines Richard Strauss noch hochdramatisch auftrumpft. Auch die etwas scharf überzeichnende Lautsprecherübertragung kann die reiche Klangdifferenzierung nicht zerstören, die Søndergård hier dem DSO entlockt. Isabel Herzfeld

Das RSB und Beethovens Neunte

Seit der taube Beethoven die Uraufführung seiner Neunten selbst angefeuert und autorisiert hat, trägt sie den Heiligenschein des Einmaligen. Für das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin gehört das Freudenfinale traditionell zum Jahreswechsel. Wie der finnische Bass Juha Uusitalo es im Rezitativ einleitet, das hat prophetischen Charakter: „Nicht diese Töne“, antwortet er dem gellenden Presto des Orchesters, „sondern lasst uns angenehmere anstimmen ...“ Die Beschwörung ist, nach einer schweren Krankheit des Sängers, existenziell und berührend Wort für Wort, im Sinn der musikalischen Botschaft ein Höhepunkt der Interpretation.

Wuchtiger naturgemäß klingt das Rezitativ zuvor, wenn die tiefen Streicher es anstimmen, und die Gruppe der Celli und Bässe bürgt für die Klangkultur, die Marek Janowski mit seinem Orchester erworben hat. Dafür konnte er 2014 einen Ehrenpreis der deutschen Schallplattenkritik aus den Händen von Eleonore Büning entgegennehmen. Beredter Wohlklang. Dem steht das Solo des dritten Horns, das Espressivo der zweiten Violinen und Bratschen im langsamen Satz nicht nach. Janowski, der Gewissenhafte, voller Eindringlichkeit an diesem Abend. Die Aufführung ist mit vier Flöten und vier Fagotten keine historisch-kritische, da sie aber Regionen äußerster Anstrengung und Kraft nicht scheut, bindet sie die stilistischen Schwächen der Melodien, tschingderassabum, in ihr großes Pathos ein.

Freude schöner Götterfunken

Nach dem heiklen Pianissimo „Über Sternen muss er wohnen“, das für den Rundfunkchor Berlin kein Problem darstellt, aber hier doch eher zum Piano neigt, geht es allegro energico in die „Freude schöner Götterfunken“. Was Beethoven dem Soloquartett mit seiner Schiller-Vertonung an vokalen Extravaganzen zumutet, erfüllt sich partiell bei Anja Kampe, Silvia Hablowetz, Dominik Wortig und Juha Uusitalo, wobei die Sopranistin klingende Höhe des Tons dem Textwort „Flügel“ vorzieht. Schließlich dämpft Janowski im Detail, was im Ganzen bei voller Intensität nicht mehr aufzuhalten ist. Großer Jubel im Konzerthaus. Sybill Mahlke

Simone Kermes und das Konzerthausorchester.

Flamboyant, exaltiert, mitreißend, mit prickelnder Lust am Singen, die immer von Herzen zu kommen scheint und jeden im Saal berührt: Dafür wird Simone Kermes geliebt, dafür strömt ihr das Publikum zu – auch im Silvesterkonzert des Konzerthausorchesters.

Und die Leipzigerin liefert: mit virtuosen, koloraturgesättigten Kastratenarien von Riccardo Broschi und Nicola Porpoga, mit Mozart, Rossini, Verdi oder Bernsteins „Glitter and be gay“: Stücke, die im Konzerthaus zugleich einen Ritt durch die Operngeschichte bieten sollen. Mit feuerspeiender Urgewalt vor allem in der Höhe, wo sie sich am wohlsten fühlt (in der Mittellage verliert die Stimme etwas an Kraft). Und mit ihrem berühmten Ganzkörpereinsatz: dem kreisenden Becken, den kumpelhaft rudernden Ellenbogen, dem Zappeln und Wippen, als stünde die Frau ganz unter Strom. Dazu gezielte Provokation mit geschmacksgrenzwertigen Kleidern, mal im Morchel-, mal im Mülleimerlook: Fertig ist der Simone-Kermes-Mix.

Der umso mehr zur Geltung kommt, als der smart wirkende Alexander Shelley am Pult dem Konzerthausorchester anfangs einen recht unauffälligen, pauschalen, geglätteten Klang entlockt, ohne dramatische Ausschläge, ohne Ecken und Kanten. Das groovt sich erst spät ein, in der Ouvertüre zu Verdis „Macht des Schicksals“, wo Shelley die Streicher bis an den Rand des Stolperns anpeitscht, oder in der Ouvertüre zu Strauß’ „Fledermaus“, wo das Ensemble gekonnt auf der Klaviatur der vertrackten Temporückungen spielt.

Der Glanzpunkt des Abends kommt in der Zugabe

Spätestens bei Semiramides „Bel raggio Lusinghier“ aus Rossinis gleichnamiger Oper wachsen allerdings die Zweifel, ob Kermes’ immergleicher Zugang zu den Stücken den Arien guttut. Gibt hier nicht eine Königin ihrer stillen Freude Ausdruck über die baldige Ankunft ihres Geliebten, von dem sie nicht weiß, dass es ihr Sohn ist? Kann Kermes auch was anderes als die Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs? Eine Ahnung von Einsamkeit, Verletzlichkeit, Tragik vielleicht?

Sie kann, was sie aber viel zu selten zeigt, etwa als Amalie in Verdis „Räubern“. Der Glanzpunkt des Abends kommt erst in der Zugabe. Als wackelnde Automatenpuppe Olimpia aus „Hoffmanns Erzählungen“ schickt Simone Kermes mit souverän und frei in allen Lagen strömendem Sopran ihr jubelndes Publikum in das neue Jahr. Udo Badelt

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