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Navid Kermani und das Deutsche Symphonie-Orchester unter Robin Ticciati am Sonntag in der Berliner Philharmonie.

© Lea Hopp

Beten oder Schreien : Beethovens Neunte mit dem DSO und Texten von Navid Kermani

Die Ode an die Freude – und die Zivilisationsbrüche der Gegenwart: Das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin hat ein Experiment gewagt und bat den Schriftsteller Navid Kermani um Texte zwischen den Sätzen.

Gleich werden die Kontrabässe die „Freude“-Melodie anstimmen, sie werden es eilig haben dabei und vorwärtsdrängen in Richtung überschwängliches Pathos. Aber Robin Ticciati winkt erstmal ab, mitten im Finale von Beethovens Neunter. Navid Kermani liest ein letztes Mal, vorne an seinem kleinen Tisch mit Spotlight, Mikro und Wasserglas.

Er berichtet von seinem Besuch im Waisenheim bei Wuqro, Äthiopien, von den Kindern, die ihm erzählen, wie sie auf den Hof gescheucht wurden und Eritreer mit Kalaschnikows im Anschlag vor ihnen standen. Wie sie nicht aufhörten zu schreien, und dass sie auch gebetet hätten. Bis der Kommandeur befahl, die Gewehre zu senken. Navid Kermani fragt die Kinder, was wohl den Ausschlag dafür gegeben habe, das Schreien oder das Beten.

Ticciati dirigiert jetzt weiter, die Ode an die Freude. Beethoven lässt die Instrumente durchaus auch beten, mit innigen Passagen der Celli und Bratschen. Aber vor allem ist der berühmte Schlusssatz der d-moll-Symphonie an diesem Abend in der Berliner Philharmonie ein einziger Aufschrei, panisch, wütend, verzweifelt. Mit himmelhohen Solistenstimmen (und einem allzu unkontrollierten Vibrato von Sopranistin Sally Matthews), einem zum Äußersten entschlossenen Rundfunkchor, und einem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin, das die Brüche und das Getriebene in Beethovens Partitur betont.

Kermani trifft Beethoven, ein Experiment – nach Helen Grimes „Meditations of Joy“, einem zwischen zarten Klanggeflechten, tumultuösen Interventionen und Friedensträumen irrlichternden Orchesterwerk. Auch hier, bei der Erstaufführung des unter anderen vom DSO beauftragten Stücks der 42-jährigen Britin, bleibt die Freude prekär. Für die anschließende Neunte bat das DSO den Schriftsteller um Texteinschübe. Schließlich hatte ja schon der Komponist selbst es gewagt, die rein instrumentale Dimension des Symphonischen erstmals mit Chor- und Sologesang aufzusprengen. Warum also nicht auch mit dem gesprochenen Wort.

Ode an den Humanismus? Kermani liebt Beethoven, und hält dagegen

Die populäre Neunte mit Schillers utopischen Revolutions-Versen ist längst zur Festtagsmusik und Europahymne geworden. Gerne versichert sich die westliche Zivilisation mit Beethoven des eigenen Humanismus. Dialektik der Aufklärung: Kermani liebt Beethoven, nennt ihn einen seiner Götter – und hält dagegen. Mit ruhiger, konzentrierter Stimme, mit Erinnerungen an die Zivilisationsbrüche des 20. und 21. Jahrhunderts. Es sind überwiegend Ausschnitte aus seinen Kriegsreportagen, die in der „Zeit“ erschienen sind.

Kandahar, Afghanistan 2011. Ein Schäfer reckt lachend seine Beinstümpfe in die Höhe, seine Füße wurden von einer Tellermine zerrissen: Der Beginn der Neunten, der Naturklang der leeren Quinte, kommt danach nicht wie sonst aus dem Nichts. Er markiert vielmehr den Moment, in dem es einem die wohlartikulierte Sprache verschlägt. Ticciati macht Tempo, dirigiert ihn energisch, fast unwirsch, als Aufruhr der Sinne.  

Dann Warschau 2016. Kermani besucht das Denkmal für den Ghetto-Aufstand, zitiert aus Marcel Reich-Ranickis Autobiographie „Mein Leben“, wie dessen alte Eltern zu laufen begannen, als ein junger Nazi sie mit Reitpeitsche zum „Umschlagplatz“ scheuchte. Das spukhafte Scherzo mit seinen schroffen Einschüben wird zum angstgetriebenen Geschwindmarsch.

Das Adagio wiederum erweist sich als Totenklage, nach Kermanis Bericht aus Kiew und Butscha im April 2022: Alltag in Kriegstrümmern, Leichen in Plastiksäcken auf eisernen Liegen. Schließlich Äthiopien 2023, der vergessene Krieg, eine halbe Million Tote. Der Schriftsteller referiert ein Gespräch mit einer mehrfach vergewaltigten Frau. Sie heißt Mebrehit, sie hofft, dass es eines Tages wieder sein wird wie vor dem Krieg, und weiß es doch besser.

Nach diesen Sätzen wird Beethovens Finale zum Fanal grausam getrogener Hoffnung. „O Freunde, nicht diese Töne!“ hebt der Bass Christof Fischesser an. Und das DSO bringt nicht nur ein ekstatisch collagiertes, opernhaftes Oratorium zu Gehör, sondern vor allem einen ins Wahnhafte driftenden Kehraus: Abgesang auf die Gattung Symphonie, Beschwörung einer besseren Welt, die am Abgrund steht.

Nie wieder? Immer wieder. Israel, den Hamas-Terror, nennt Navid Kermani nicht explizit. Aber das Wissen um den jüngsten Zivilisationsbruch schwingt mit, in jedem Satz. Wenige Stunden zuvor hatte sich Berlins Zivilgesellschaft am Brandenburger Tor einmal mehr des „Nie wieder“ versichert.

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