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Zwei Jahre lang war die Provinz Mekelle von der Außenwelt abgeschnitten, ohne Versorgung oder Telefonnetz.

© AFP/ Eduardo Soteras

Tigray nach dem Waffenstillstand: Geisterstädte und hungernde Kinder

Die äthiopische Provinz Tigray war zwei Jahre lang abgeriegelt. Keine Hilfsgüter, kein Telefonnetz, kein Unterricht. Nur Krieg. Unser Reporter war nun dort und ist entsetzt.

Von Johannes Dieterich

Frauen stoßen schrille Trillerschreie aus, Männer klopfen sich freudestrahlend auf die Schultern, eine Mutter von zwei Kindern bricht in unkontrolliertes Schluchzen aus.

Das sind die Freudenszenen in der Flugzeugkabine bei der Landung in der Provinzhauptstadt Mekelle in Äthiopiens Tigray-Provinz.

Erst vor zwei Wochen hat Ethiopian Airlines Flüge nach Mekelle wieder aufgenommen – vier Tage vor dem orthodoxen Weihnachtsfest wollten so viele Menschen zu ihren Familien reisen, dass die Fluglinie statt täglich einer Maschine gleich drei hintereinander einsetzen musste.

Auch das Telefonnetz war gekappt

Denn die Provinz war zwei Jahre lang von der Außenwelt abgeschnitten: Die Grenzen geschlossen, das Telefonnetz gekappt, die Versorgung unterbrochen.

Bis Äthiopiens Regierung mit der Volksbefreiungsfront Tigray (TPLF) Anfang November in Südafrika einen Friedensvertrag schloss: Seitdem sollten die Kämpfe eigentlich beendet, die Grenzen geöffnet und die Provinz wieder Teil der äthiopischen Bundesrepublik sein.

Die Stadt Mekelle wirkt wie ein Schatten ihrer selbst. Sogar während der Besetzung durch äthiopische Regierungstruppen war die eigentlich eine knappe halbe Million Einwohner zählende Provinzhauptstadt belebter.

Mekelle ist eine Geisterstadt

Heute sitzen Verkäuferinnen oder Verkäufer vor fast leeren Geschäften. Auf den Straßen sind mit Passagieren vollgestopfte dreirädrige Tucktucks, die bei Talfahrten den Motor ausschalten, um Sprit zu sparen, und klapprige Minibusse sowie Eselsgespanne.

Ein Liter Benzin kostet derzeit mehr als vier Euro: Für fast jeden unerschwinglich. Mekelles Tankstellen sind daher ausgestorben: Der Sprit wird literweise in Plastikflaschen verkauft.

4000
Tote soll es seit der Unterzeichnung des Friedensvertrags gegeben haben.

Die meisten Banken sind noch immer geschlossen – die wenigen geöffneten geben ihren Kunden pro Woche höchstens 1500 Birr aus, weniger als 30 Euro. Die längsten Schlangen haben sich vor den Läden für Telefonkarten gebildet: Weil es zwei Jahre lang keinen Handyempfang gab, sind die alten Karten abgelaufen.

Gleich hinter dem „Hotel Northern Star“ wird Nahrungsmittelhilfe verteilt, die das World Food Programme (WFP) seit Mitte Dezember wieder in die Provinz karrt. In Reih und Glied sitzen Dutzende vor allem älterer Menschen auf dem Boden und warten geduldig, bis sie an der Reihe sind.

Unterdessen sitzt der 37-jährige Yibrah Asmelash in einem ehemaligen Klassenzimmer der ältesten Grundschule Mekelles und wartet, dass auch er bei Lebensmittelausgaben an die Reihe kommt.

Eineinhalb Kilo Bohnen für vier Monate

Yibrah hat in den vergangenen vier Monaten nur einmal Hilfe erhalten: 15 Kilogramm Mehl, 1,5 Kilogramm Bohnen und drei Viertel Liter Pflanzenöl. Mehr war nicht drin, weil selbst die Konvois des WFP nicht in die blockierte Provinz gelassen wurden.

In den Städten gibt es HIlfe, in ländlichen Regionen weniger.
In den Städten gibt es HIlfe, in ländlichen Regionen weniger.

© AFP / AFP/ Zacharias Abubeker

Yibrah floh im September von seinem rund 150 Kilometer entfernten Dorf Adi Nevri zu Fuß nach Mekelle – während der zweiten großen Flüchtlingswelle des Bürgerkriegs.

Beim Beschuss seines Dorfs durch eritreische Truppen habe er in der Verwirrung seine Frau verloren, erzählt der Kaufmann: Inzwischen erfuhr er, dass auch sie überlebt hat.

Allerdings wurde sein Geschäft geplündert und zertrümmert. Täglich kämen unterernährte Kinder in seine Station, berichtet ein Arzt in der Pädiatrie des Ayder-Krankenhauses: Doch das wirkliche Problem seien diejenigen, die nicht auftauchen.

Ausgehungerte Kinder

Das sind ausgehungerte Kinder in ländlichen Regionen, die in Ermangelung an Transportmitteln und Geld niemals in ein Krankenhaus kommen. In ihrem Dorf seien schon mehrere Kinder verhungert, berichtet die Mutter des sechs Monate alten Getenet: Dessen Haut ist runzlig wie die eines Greises.

Seit fast drei Jahren sind auch sämtliche Bildungseinrichtungen in der Provinz geschlossen – erst wegen Covid, dann wegen des Kriegs.

Täglich suchen ausgehungerte Kinder aus ländlichen Regionen Hilfe in äthiopischen Krankenhäusern.
Täglich suchen ausgehungerte Kinder aus ländlichen Regionen Hilfe in äthiopischen Krankenhäusern.

© dpa / DPA/Mulugeta Ayene

Wer es sich leisten kann, habe für seine Kinder einen Privatlehrer engagiert oder versuche ihnen selbst etwas beizubringen, sagt Samuel, der vor wenigen Monaten seine Frau verloren hat und seine Kinder im Alter von zehn und 16 Jahren nun allein aufziehen muss: „Unter den Folgen des jahrelangen Schulausfalls wird Tigray noch jahrzehntelang leiden.“

Fast der gesamte Norden und Westen Tigrays ist weiterhin von eritreischen Truppen besetzt, die Äthiopiens Premierminister Abiy Ahmed vor zwei Jahren zur Unterstützung seiner Invasion gerufen hatte.

Unter den Folgen des jahrelangen Schulausfalls wird Tigray noch jahrzehntelang leiden.

Samuel, Alleinerziehender Vater in Tigray.

Bei den Friedensgesprächen in Südafrika war Eritrea nicht vertreten: Das ließ die Befürchtung aufkommen, der eritreische Diktator Isaias Afwerki könne zum Friedensverderber werden.

Tatsächlich befinden sich seine Truppen auch zwei Monate nach der Unterzeichnung des Friedensvertrags noch immer in Tigray und werden – wie schon während der ersten heißen Phase des Kriegs – zahlreicher Massaker, Vergewaltigungen und Plünderungen bezichtigt.

Noch immer wird Beute nach Eritrea geschleppt

Seit der Unterzeichnung des Friedensvertrags sollen schon mehr als 4000 Menschen getötet worden sein, heißt es in Mekelle. In einer der beiden Fernsehstationen Tigrays sind Bilder von einer Karawane vollbepackter Kamele in den Straßen der Provinzstadt Shires zu sehen.

Sie transportierten Beutegut nach Eritrea ab, sagt der Sprecher: Von Baumaterialien über Möbel bis zu Töpfen und Löffeln.

Afwerkis Absicht sei die „totale Zerstörung“ Tigrays, kommentiert der politische Analyst Muez Gidey. Bei der Vereinbarung von Pretoria handele es sich nicht um einen Friedensvertrag, sondern um eine Kapitulationserklärung, fährt Muez fort: Der Befreiungsfront TPLF sei nichts anderes übrig geblieben, als das Handtuch zu werfen.

Der strategische Kopf der Verteidigungskräfte Tigrays (TDF) – der schon aus früheren Kriegen legendäre General Tsadkan Gebretensae – geht davon aus, dass allein in den letzten zweieinhalb Kriegsmonaten mehr als 150.000 Soldaten fielen.

150.000
Soldaten sind in den letzten zweieinhalb Kriegsmonaten gefallen.

Noch heute seien die Schlachtfelder von den Überresten nicht beerdigter Gefallener übersät. Der knapp 70-Jährige sitzt im Trainingsanzug auf der Terrasse seiner Villa in einem schmucken Stadtteil von Mekelle, bietet äthiopischen Kaffee an und spricht mit sanfter Stimme.

Krieg gegen die Zivilbevölkerung

Die TDF habe zu den Waffen gegriffen, um die Bevölkerung zu schützen, sagt der General: Welchen Sinn hätte es gemacht, dafür die Bevölkerung zu opfern? Schließlich hätten die Gegner keinen herkömmlichen, sondern einen „totalen Krieg“ geführt, von dem die Zivilbevölkerung nicht verschont blieb.

In Mekelle kursieren Zahlen, wonach in den vergangenen zwei Jahren eine der gut sieben Millionen Einwohner Tigrays ums Leben kamen. Tsadkan ist überzeugt davon, dass inzwischen auch Äthiopiens Premierminister Abiy den Frieden brauche: Ohne ihn werde sein wirtschaftlich schwer angeschlagenes Land nicht wieder auf die Beine kommen.

Äthiopiens Premierminister Abiy, der fragwürdige Friedensnobelpreisträger
Äthiopiens Premierminister Abiy, der fragwürdige Friedensnobelpreisträger

© AFP / AFP/ Amanuel Sileshi

„Wir sind zur Kooperation mit Abiy bereit“, sagt der Vier-Sterne-General. Vor eineinhalb Jahren hatte TPLF-Sprecher Getachew Reda noch jede Verständigung mit dem kompromittierten Friedensnobelpreisträger ausgeschlossen. „Wir haben jedes Vertrauen in ihn verloren“, so Getachew damals im Interview.

Heute setzt der einstige äthiopische Informationsminister alle Hoffnung auf Abiy – vor allem wenn es darum geht, die Eritreer aus Tigray zurückzudrängen. Abiy habe die Nachbarn zur Hilfe gerufen, jetzt müsse er sie auch wieder loswerden. Gelinge ihm das nicht, sei eine Wiederaufnahme des Krieges unvermeidlich.

Mehr als 95 Prozent der Bevölkerung würden für Unabhängigkeit stimmen.

Kinfe Hadush, Sprecher der oppositionellen „Partei der Dritten Revolution in Tigray“, über einen möglichen Volksentscheid zur Unabhängigkeit.

Selbst nach einem Abzug der Eritreer ist jedoch nicht ausgemacht, ob Tigray tatsächlich Teil der äthiopischen Bundesrepublik bleibt. Äthiopiens Verfassung räumt jeder Provinz ausdrücklich das Recht zu Abspaltung ein.

Kinfe Hadush, Sprecher der oppositionellen „Partei der Dritten Revolution in Tigray“, glaubt zu wissen, wie ein Volksentscheid über die Unabhängigkeit ausgehen würde: „Mehr als 95 Prozent der Bevölkerung werden dafür stimmen.“

Vermutlich ist das nicht übertrieben: Nach den Erfahrungen der vergangenen zwei Jahre kann sich kaum ein Tigray noch ein Zusammenleben mit „den Äthiopiern“ vorstellen.

Noch schwieriger könnte es für die Bevölkerung allerdings nach einer Sezession werden: Denn die auf allen Seiten von Feinden umgebene Provinz müsste sich auf eine Blockade wie in den vergangenen zwei Jahren gefasst machen. Wie das aussehen könnte, hat die äthiopische Regierung bereits durchblicken lassen.

Nach dem orthodoxen Weihnachtsfest untersagte sie allen Tigray zwischen 18 und 50 Jahren die „Einreise“ in die Hauptstadt Addis Abeba: Als ob das Minderheitenvolk der Tigray, das gut fünf Prozent der 120 Millionen Äthiopier ausmacht, schon gar nicht mehr dazugehört.

In Mekelle ist schon heute abzulesen, wie Tigray in zehn Jahren aussehen könnte: Eine um Jahrzehnte zurückgeworfene Provinz, die zwar mit knapper Not den Krieg überlebte, aber am Frieden scheiterte.

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