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Arbeiter räumen Trümmer in Ostpreußen weg, circa 1935.

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Blinder Fleck der Aufarbeitung?: Auch der Osten war Opfer von kolonialer Gewalt

Von den Preußen bis Hitler: Kolonialismus betraf auch den Osten, meint Migrationsforscher Mark Terkessidis. Brauchen wir eine Erweiterung der Erinnerung?

Von Caroline Fetscher

Als koloniale Territorien galten angemaßte Besitzungen in Übersee. Ein Ozean musste liegen zwischen Metropole und europäischer Kolonie. Dieser „Salzwasser-Theorie“ tritt Mark Terkessidis entgegen. Nicht erst nach dem Verlust der Kolonien durch den Versailler Vertrag hatte es deutschen Hunger nach „Lebensraum im Osten“ gegeben.

Der Migrationsforscher erinnert etwa daran, wie Preußen den Osten zu „peuplieren“ suchte oder die „Alldeutschen“ Anfang des 20. Jahrhunderts bei der „Ausdehnung der Reichsgrenzen“ ein „Mitteleuropa“ im Blick hatten, das bis Polen reichen sollte.

„Was für England Indien war, wird für uns der Ostraum sein“ hatte Hitler verkündet. Terkessidis bettet sein Plädoyer für eine „Erweiterung der Osterinnerung“ in die Gesamtgeschichte kolonialer Aspirationen ein und liefert eine Fülle an Funden zu ausrangierten Episoden, etwa zur Niederlassung, an der sich die skrupellosen Welser 1528 in Venezuela versucht hatten.

Während Teile der Postcolonial Studies mit der Holocaust-Forschung in erinnerungspolitische Konkurrenz zu treten scheinen, sieht Terkessidis eine Ostlücke klaffen. Er nähert sich ihr in globalen Rund- und Rückflügen – über die Kreuzritter bis zur Politik Bismarcks oder Oswald Spenglers paranoider, rassistischer Warnung vor dem „Untergang des Abendlandes“, das von Barbaren überfremdet werde, und selber barbarische Stärke zeigen müsse.

Auch Alexander von Humboldt wird ins koloniale Ganze eingereicht. Er hätte Besseres verdient, etwa angesichts seiner Äußerungen zum Buch von Inca Garcilaso de la Vega, dem Verfasser einer Geschichte der Inka. Als Sohn der Nichte des Inka-Herrschers Huayna Cápac und eines Conquistadors gilt de la Vega (1539 - 1616), als historischer Kronzeuge. Humboldt zog nach der Lektüre die Parallele vom „Reich der Inkas“ mit einem Kloster, einer „Herrnhuther Kolonie, in der Industrie aufblüht“.

Der ambivalente Charakter des westlichen Zivilisationsprojekts

Die Untertanen aber seien wie „Maschinen“ gefesselt an Ort und Funktion. „Welche Polizei-Inquisition. Je zehn Menschen haben einen Aufseher, diese Aufseher wieder Aufseher, alle Ankläger.“

Humboldt urteilte: „Die Inkas allein waren fähig, den Einwohnern Amerikas ein Vorspiel von dem zu geben, was die blutdürstige christliche Raserei durch spanische Hände ausrichtete.“ Klar signalisierte er seine Abscheu vor Gewaltverhältnissen.

Ohne allzu sehr der gängigen Dämonisierung der Postcolonial Studies das Wort zu reden, die gern koloniale Verstrickungen und Komplizenschaften ausblenden, anerkennt Terkessidis den ambivalenten Charakter westlicher Errungenschaften zwischen einerseits „Fortschritt, Wohlstand, Freiheit und Demokratie“ und andererseits „Unterdrückung, Ausbeutung und Ausgrenzung“. Auch diese differenzierte Haltung trägt dazu bei, Erinnerungspolitik und Außenpolitik, Innen und Außen, so produktiv wie spannend neu zu verbinden.
Mark Terkessidis: „Wessen Erinnerung zählt? Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute“. Hoffmann und Campe, 240 S., 22 €

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