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Ansteckende Angst: eine Szene aus „Vergiss meinen Namen“.

© avant

Comic-Autobiografie „Vergiss meinen Namen“: Die Monster der Erinnerung

Der Italiener Zerocalcare hat mit „Vergiss meinen Namen“ eine der schrägsten, witzigsten und berührendsten Comic-Autobiografien seit langem veröffentlicht.

Wie entgeht man der Tristesse des Erwachsenseins und dem Schmerz des eigenen Schicksals? Indem man seine Lebensgeschichte als Literatur begreift und sich selbst als Helden dieses Abenteuers. Dies jedenfalls ist die Strategie des italienischen Zeichners  Michele Rech, besser bekannt als Zerocalcare („Kobane Calling“).

Der arbeitet in seinem neuen, autobiografischen Comic „Vergiss meinen Namen“ (aus dem Italienischen von Daniel Koll, avant, 240 S., 25 €) die verwickelte Geschichte seiner Familie auf und flüchtet sich dabei immer wieder in phantastische Welten aus TV-Serien, Animes und Computerspielen.

Ein Mensch ohne Geheimnis ist ein Mensch ohne Identität.

Zerocalcare 

Wie finstere Ringgeister steigen unbeantwortete Fragen und Ängste aus Zerocalcares Erinnerung empor, als seine geliebte Großmutter stirbt und damit ein wichtiger Teil seiner Kindheit verschwindet. Als schattenhafte Monster verfolgen sie ihn durch den ganzen Comic, Zerocalcare wehrt sich gegen sie mit seiner Fantasie und mit der Rekonstruktion seiner Familiengeschichte, in der es zahlreiche Geheimnisse gibt. „Ich habe immer Angst, die Realität damit zu verwechseln, wie meine Fantasie 30 Jahre lang die Löcher und Lücken gestopft hat“, heißt es zu Beginn.

Im Angesicht des Todes: Eine Szene aus „Vergiss meinen Namen“.

© avant

Zerocalcare wächst im römischen Problemviertel Rebibbia auf. Mit zweieinhalb Jahren weigert er sich plötzlich zu essen und zu sprechen, weshalb seine Eltern ihn zu seiner Großmutter geben. Hier gefällt es dem Jungen besser, vor allem, weil er jeden Montag in den Zoo darf, wo er allen Tieren Namen gibt.

Wie Hühner aus Disney-Filmen

Schonungslos und selbstironisch schildert Zerocalcare sowohl seine eigenen Macken und Schwächen als auch die seiner Familie: Während er selbst sich zu einem neurotischen Nerd-Punk entwickelt, wird seine Großmutter immer wunderlicher und leidet an Demenz. Nach ihrem Tod offenbart sich Stück für Stück ihre tragische Lebensgeschichte: Von den Eltern in ein Internat abgeschoben, von russischen Exil-Adligen in Nizza streng erzogen, während des Zweiten Weltkrieges untergetaucht.

So ernst der Stoff ist, so humorvoll wird er von Zerocalcare erzählt: In zahllosen Abschweifungen imaginiert er sich oder seine Verwandten in popkulturelle Verkleidungen, vom Schulpsychologen, der wie König Leonidas aus „300“ aussieht, bis hin zu seiner Mutter und seiner Großmutter, die wie anthropomorphe Hühner aus Disney-Filmen gezeichnet sind, während er sich selbst und viele andere Figuren als Menschen darstellt.

Das Titelbild von „Vergiss meinen Namen“.

© avant

Mit Anleihen an Manga-Ästhetik, Funny-Comics und vielen filmischen Überhöhungen entsteht eine wilde Mischung, dessen stilistische Sprünge perfekt widerspiegeln, welche Irrungen und Wirrungen Zerocalcare in seiner eigenen Geschichte durchlaufen musste.

Wie in einem Computerspiel versucht Zerocalcare dabei, den nächsten Level vom Jungen zum Mann, vom Kind zum Erwachsenen zu schaffen, was nicht ohne Blessuren abläuft. Doch trotz seines nostalgischen Klammerns an die Kindheit ist Zerocalcare am Ende weiser, als ihm selbst bewusst zu sein scheint: „Ein Mensch ohne Geheimnis ist ein Mensch ohne Identität“, lautet der zentrale Satz von „Vergiss meinen Namen“. Eine der schrägsten, witzigsten und berührendsten Comic-Autobiografien der vergangenen Jahre.

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