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© Illustration: Dreier

Historiencomic: "Spüüts Euer Spüü!"

Tagesspiegel-Zeichner Sascha Dreier erzählt in seinem Fußball-Comic-Roman „Der Papierene“ von viel mehr als nur vom Sport: Es geht um Liebe, Politik und die gesellschaftliche Verantwortung des Einzelnen.

Die englische Krankheit geht um. Im Ring-Café, dem Wiener Treff der Künstler und Philosophen, dreht sich Anfang der 1920er Jahre alles ums Thema Fußball und um den sportlichen Neuanfang nach dem Ersten Weltkrieg. Es ist der Beginn von Matthias Sindelars Aufstieg vom vaterlosen Straßenfußballer zu einem der großen Spieler des 20. Jahrhunderts. Dessen Lebensgeschichte hat der Berliner Zeichner Sascha Dreier jetzt als ein großes zeitgeschichtliches Drama erzählt, in dem sich Sport, Politik und viel Zwischenmenschliches zu einer packenden Geschichte verbinden, die auch für Nicht-Sportfans äußerst unterhaltsam ist.

Dreier, Tagesspiegel-Lesern vor allem durch seine musikalischen Bilderrätsel in der Sonntagsbeilage bekannt, hat die Lebensgeschichte des österreichischen Fußballstars in einem opulenten, Fakten und Fiktives kombinierenden Comic-Roman nacherzählt. Als Titel hat er den Spitznamen des schmächtigen, aber für seine Eleganz und Leichtigkeit bewunderten Sindelar gewählt: „Der Papierene“. Vor dem Hintergrund der politischen Umbrüche der Zwischenkriegsjahre, dem auch in Österreich zunehmenden Antisemitismus und der zunehmend spürbar bevorstehenden Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland entfaltet Dreier in souveränen, auf klare Linien beschränkten und doch sehr fein differenzierten Zeichnungen eine Geschichte, die auf mehr als 200 Seiten viel mehr erzählt als den für sich genommen schon spannenden Lebenslauf des Ausnahmesportlers Sindelar: Durch die geschickte Verknüpfung von Zeitgeschichte und Biografischem verhandelt Dreier auch grundlegendere Fragen - wie etwa jene, wieweit der einzelne Mensch auf politische und gesellschaftliche Entwicklungen einwirken kann.

Es begann mit einer Anekdote

Die Idee zu diesem Epos entstand vor gut zehn Jahren in einer Kreuzberger WG, wie Sascha Dreier beim Gespräch erzählt. Der studierte Architekt, der seine Leidenschaft fürs Zeichnen damals eher nebenbei auslebte, wohnte mit einem Fußballfreak zusammen.

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Geburtsstunde des Wunderteams: Szene aus "Der Papierene".

© Illustration: Dreier

Aus Gesprächen erwuchs die Idee, wichtige Ereignisse aus der Sportgeschichte in Form von Comicgeschichten zu erzählen. Eine Anekdote sollte das so genannte „Anschlussspiel“ sein, das die Deutschen im April 1938, drei Wochen nach dem Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich, im Wiener Stadion organisierten.

Als Dreier begann, sich in die Geschichte einzulesen, packte ihn die Leidenschaft. Er recherchierte tiefer und tiefer die Geschichte des österreichischen „Wunderteams“, das mit Sindelar als Kapitän Anfang der 30er Jahre eine spektakuläre Siegesserie verzeichnete und für seinen eleganten, fintenreichen Stil europaweit gefeiert wurde. Jetzt, nach jahrelanger Arbeit in Dreiers Zeichnerstube, liegt mit dem Buch immerhin das halbe Ergebnis eines zählerischen und zeichnerischen Kraftaktes vor: „Der Papierene“ ist der erste Band von zweien und erzählt Sindelars Leben bis 1933. Der zweite Teil bis zum mysteriösen Tod des Starspielers 1939 soll im kommenden Jahr erschienen, rechtzeitig zum 100. Jubiläum der österreichischen Fußball-Bundesliga.

Wien, Stadt der Liebe

Dass sich ein Berliner Zeichner ausgerechnet ein Stück österreichische Sportgeschichte als Thema wählt, hat bei Dreier nicht nur mit der Leidenschaft für Fußball zu tun. Sondern auch mit der Liebe zum Handlungsort der Geschichte. Er hat in den vergangenen Jahren immer wieder schöne Zeiten in Wien verbracht und dort auch seine Frau kennengelernt, erzählt er. Kein Wunder, dass Dreiers Buch seiner Stadt der Liebe einen entsprechend sympathischen Auftritt gewährt: Die Kaffeehäuser der Stadt, der Humor ihrer Bewohner, ihre Sprache („Spüüts Euer Spüü!“) und ihre pittoreske Architektur sind mit viel Liebe zum Detail wiedergegeben.

Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive einer der wenigen frei erfundenen Figuren, die Dreier für seine Erzählung aus dramaturgischen Gründen geschaffen hat: Roxy Hogan, Sindelars fiktive Geliebte, führt den Leser durch das Auf und Ab von Sindelars Werdegang, bei dem sich Dreier im Kern aber streng an die Wahrheit gehalten hat, wie er betont. Durch die Kontrastierung von Fakt und Fiktion und durch die geschickte Auswahl von Haupt- und Nebenfiguren gelingt Dreier eine differenzierte Auseinandersetzung mit Sindelar und seiner Zeit. Vor allem vermittelt Dreier nachvollziehbar und mit gelegentlich dramatisch aus dem sachlichen Raster

ausbrechenden Panels, wie sich die Politik immer wieder auf das Leben des Sportlers auswirkt, obwohl er doch eigentlich nur Fußball spielen möchte.

Zeichnerisch ist Dreiers Porträtierung vor allem von Sindelar auf wenige grundlegende und doch treffende Linien reduziert, ein Kunstgriff, mit dem Dreier auch deutlich macht, dass seine Hauptfigur oft nur eine Projektionsfläche für die Erwartungen und Ansprüche anderer Menschen ist und dabei selbst oft gar nicht recht weiß, wie er zu den Entwicklungen stehen soll, die um ihn herum passieren. Dass neben dem Sport auch Exkurse zu Politik, Gesellschaft und Kunst sowie das nicht immer einfache Beziehungsleben fast gleichwertige Bedeutung haben, ist ebenfalls der stupsnasigen, sommersprossigen Roxy zu verdanken. Die hat Dreier als erfolgreiche, eigensinnige, wenngleich anfangs etwas naive Architektin entworfen, die sich in Intellektuellen- und Künstlerkreisen bewegt, wo man besonders sensibel auf die von Nationalsozialisten und ihren österreichischen Gesinnungsgenossen forcierten Veränderungen reagiert, die sich gegen Ende des Buches immer mehr wie ein drohendes Gewitter ins Bild schieben.

Sascha Dreier: Der Papierene - das Leben des Fußballstars Matthias Sindelar, Band 1: 1903–1933. 200 Seiten, 19,95 Euro. Mehr über das Buch und Leseprobe unter diesem Link.

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