zum Hauptinhalt
Geld und Verbrechen. Der französische Schriftsteller Tanguy Viel, 43, ist vor allem für seine Kriminalromane bekannt.

© Roland Allard/Wagenbach

„Selbstjustiz“ von Tanguy Viel: Das Luftschloss des Propheten

Im Roman „Selbstjustiz“ von Tanguy Viel ertrinkt ein Investor auf hoher See. Die Geschichte seiner Ermordung ist eine eindrückliche und fesselnde Gesellschaftskritik.

Der Handlungsmotor in Tanguy Viels hierzulande leider noch immer viel zu wenig beachteten Romanen ist das Geld. Ihnen jagen seine Figuren mit oftmals krimineller Energie nach. Das Geld bestimmt den Grad ihrer Hoffnung oder ihres Unglücks, und Hoffnung und Unglück bedingen sich selbstverständlich auf subtile Weise. Geld ist bei Tanguy Viel nicht nur Medium, sondern Message. Auch in seinem neuen Roman steht der schnöde Mammon im Mittelpunkt.

Tanguy Viel erzählt in „Selbstjustiz“, prägnanter als in seinen vorangegangenen Büchern, die Geschichte einer sozialen Talfahrt – man könnte sogar von einem Gesellschaftsdrama sprechen, das einiges über die ökonomischen Verwerfungen der letzten 20, 30 Jahre sagt. Der 1973 in Brest geborene Autor bedient sich diesmal weniger beim Film Noir, weniger bei klassischen Gangstergeschichten oder bei der Nouvelle Vague, wie er es etwa in den Romanen „Das absolut perfekte Verbrechen“ oder „Unverdächtig“ getan hat.

Kammerspiel im Gerichtssaal

Diesmal ist es eher ein Sozial-Thriller, inszeniert als Kammerspiel im Gerichtssaal. Das zentrale Ereignis wird schon auf den ersten Seiten verraten. Ein Mann findet sich unversehens im Meer wieder. Seine Kleidung ist schwer vom Wasser, die bretonische Küste zu weit entfernt, als dass er sie aus eigener Kraft erreichen könnte. Ein Unfall war dieser Sturz über die Reling nicht. Sein Gefährte auf dem Boot jedenfalls macht keine Anstalten, ihn zu retten: „Ich weiß nur“, sinniert der später, „kurz darauf sah ich zu, wie er mit seinen schweren Armen auf das Meer einschlug, der Schaum, den er herumschaufelte, ließ mich gleichgültig. Vielleicht hielt er es noch für einen schlechten Scherz. Vielleicht dachte er noch, er könne zu einem Felsen gelangen, vielleicht zu einem, der bei Ebbe auftauchte.“

Ein Totschlag also? Unterlassene Hilfeleistung? Martial Kermeur, jener zunächst kaltblütig erscheinende Begleiter auf hoher See, muss einem Richter Auskunft über die Geschehnisse geben. Der lange Monolog des Verdächtigen allerdings ist mehr als ein Geständnis – er ist zugleich Lebensbeichte und Selbstvergewisserung. In der intimen Verhörsituation rollt Kermeur seinen Fall auf, dem eine „vulgäre Betrugsgeschichte“ zugrunde liegt.

Versprechen von schnellem Reichtum

Diese Geschichte beginnt mit dem Auftauchen von Antoine Lazenec, den wir bereits als Ertrinkenden kennengelernt haben. Der Investor hat hochtrabende Pläne für ein Seebad bei Brest. Der sozialistische Bürgermeister des Dorfes ist Feuer und Flamme. Die vielen entlassenen Seeleute und Arbeiter wollen an eine Zukunft glauben, die die Region zwar längst hinter sich hat, die Lazenec ihnen aber mit hochtrabenden Versprechungen farbenfroh ausmalt.

Kermeur, der in seinem Leben nicht gerade vom Glück verfolgt ist, von seiner Frau verlassen wurde, sich alleine um seinen Sohn Erwan kümmert, Kermeur also investiert. Er steckt seine gesamte Abfindung von mehreren 100 000 Francs in das Luftschloss, das der falsche Prophet Lazenec vor den Augen der Dorfbewohner errichtet.

Die Illusion des großen Seebades und der Besucherströme stürzt natürlich in sich zusammen. Die Träume der Dorfbewohner von einer materiell gesicherten Zukunft werden von Lazenec schamlos ausgenutzt. Der Bürgermeister, der gutgläubig und größenwahnsinnig öffentliche Gelder verspielt, bringt sich um. Und Kermeurs Sohn Erwan wandert ins Gefängnis, weil er aus Wut auf den Investor dessen Luxusboot und noch ein paar andere zum Kentern bringt.

Ohnmacht verwandelt sich in Wut

Es dauert lange, bis Martial Kermeur seine Ohnmachtsgefühle in Wut verwandelt: „Ein Typ wie Lazenec, Herr Richter, so ein Typ wie der, das habe ich inzwischen begriffen: So einer verschwindet nie, Sie müssen schon selbst dafür sorgen. Sonst kommt der zurück. Immer wieder.“

Kermeur sorgt bei jener verhängnisvollen Bootsfahrt für das endgültige Verschwinden Lazenecs. Er stellt auf gewisse Weise eine soziale Ordnung wieder her, die durch den Betrüger zerstört worden ist. Nach dem beredten, von Hinrich Schmidt-Henkel brillant ins Deutsche gebrachten Monolog, der weniger eine Rechtfertigung als eine Anklage ist, kommt der Richter zu seinem Schluss. Unter Bezugnahme auf den „Article 353 du code pénal“, den Paragrafen 353 des Strafrechts, der dem französischen Original von „Selbstjustiz“ seinen Titel gibt, fällt er ein überraschendes Urteil.

Erosion der Gerechtigkeitsvorstellung

Die eigentliche Überraschung dieses Romans aber ist seine fesselnde Dramaturgie. Wie die Geschichte langsam von ihrem Ende her aufgerollt wird, wie sich aus der Rede des Angeklagten nicht zuletzt der Irrsinn skrupellosen Spekulantentums ablesen lässt, wie Tanguy Viel in diesem Buch nicht nur einen komplizierten Fall schildert, sondern auch die Erosion einer Vorstellung von Gerechtigkeit, die in Frankreich mit zum Aufstieg des Front National beigetragen hat – das ist fabelhaft.

Vielleicht ist der Erzähler, ein einfacher Mann, ein bisschen zu eloquent für seine Verhältnisse. Vielleicht durchschaut er sich selbst auch ein bisschen zu sehr. Aber als Leser folgt man ihm doch voller Anteilnahme und Spannung durch die Abwärtsspirale seines Lebens.

Tanguy Viel: Selbstjustiz. Roman. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2017. 168 Seiten, 20 €.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false