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Im Wahlkampf. Joe Biden tritt für die US-Demokraten gegen Amtsinhaber Donald Trump an.

© REUTERS

Das Stottern des Kandidaten: Buh-Buh-Buh-Biden

Joe Biden ist ein schlechter Redner. Donald Trump nennt ihn „senil“. Doch die Wahrheit ist eine andere. Die Kolumne Spiegelstrich.

Klaus Brinkbäumer war zuletzt Chefredakteur des „Spiegel“ und arbeitet heute als Autor unter anderem für „Die Zeit“. Sie erreichen ihn unter Klaus.Brinkbaeumer@extern.tagesspiegel.de oder auf Twitter unter @Brinkbaeumer.

Ist es nicht eine der schöneren Erfahrungen des Lebens, wenn eine zweite Wahrheit auftaucht, welche die festgezimmerte erste Wahrheit relativiert, korrigiert, mitunter nivelliert?

Meine erste Wahrheit über den Präsidentschaftskandidaten Joe Biden entstand 2019 im Wahlkampf von New Hampshire, wo ich Biden betrachtete wie ein süchtiger Gaffer seine Katastrophenpornos: Der Mann konnte es nicht.

Er war ein grinsender älterer Herr, der sagte, dass er für seinen Chef Barack Obama mit drei Ländern verhandelt habe; Guatemala und El Salvador fielen ihm ein, das dritte aber nicht; „never mind“, sagte er, begann die nächste Anekdote und hatte aber die Pointe vergessen. Und dann war er auch schon am Ende seiner Rede angekommen, denn er wollte uns arme Menschen „nicht so lange in der Sonne stehen“ lassen. Keine Gespräche, wenige Selfies, nichts Spontanes. Weg war er.

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Biden strukturiert seine Ansprache wie ein Achtjähriger

Dieser Joe Biden, 77 Jahre alt, wäre in Deutschland ein schlechter Redner. In den USA, Heimatland des leidenschaftlich freien Sprechens, ist er ein fürchterlicher. Er strukturiert seine Ansprache wie ein Achtjähriger. Sagt irgendetwas, fügt nachträglich ein „number one“ an. Dann sagt er „number two“, sagt wieder irgendetwas, das allerdings mit „number one“ nichts zu tun hat, und wenn es für seine Verhältnisse komplex wird, folgt „number three“.

„Here’s the deal“, dies ist die Lage, das sagt Biden pro Rede zehnmal, und seine Reden sind kurz. „Folks“, „Leute“, so lautet seine Anrede, ich will aber nicht „folks“ sein. Das alles im Wörter zermantschenden Singsang von Delaware.

Tagesspiegel-Kolumnist Klaus Brinkbäumer.
Tagesspiegel-Kolumnist Klaus Brinkbäumer.

© Tobias Everke

Neulich las ich einen bereits einige Monate alten Text des „Atlantic“, der all das soeben Erzählte neu erzählt. Die zweite Wahrheit. Bei der Fernsehdebatte in Detroit war Joe Biden hängen geblieben. Im Original: „We f-f-f-f-further support (Pause, Augen geschlossen, Augen wieder geöffnet) the uh-uh-uh-uh (Kinn sinkt auf die Brust) the-uh, the ability to buy into the Obamacare plan.“ Nach diesem Auftritt ließ sich Biden darauf ein, von einem gleichfalls stotternden Reporter über das Stottern befragt zu werden.

Die größten Schwierigkeiten hatte Biden als Kind mit dem „s“. Stottern ist eine neurologische Krankheit, meistens genetisch bedingt: Bidens Onkel war Stotterer. „Mr. Buh-Buh-Buh-Biden, wie heißt das Wort?“, fragte eine Nonne den 13-jährigen Joe vor der ganzen Klasse. Es dauert dann, bis Joe Biden die gesamte Episode erzählt hat.

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Sie lasen damals eine Geschichte vor, einer nach dem anderen, aber Joe Biden konnte immer noch besser auswendig vortragen als vorlesen, dann verhakte sich nicht so viel in seinem Kopf. Er zählte also ab, wie viele Schüler vor ihm dran waren, rechnete aus, welcher Absatz seiner sein würde und lernte ihn flink: „Sir Walter Raleigh was a gentleman. He laid his cloak upon the muddy road so the lady wouldn’t soil her shoes when she entered the carriage.“ So verdammt viele „s“.

Er kam dran, ein Mitschüler stöhnte schon, einer imitierte schon den Stotterer, einige lachten schon. Biden sagte: „Sir Walter Raleigh was a gentle man.“ Freundlicher Mann also, statt Gentleman. Die Nonne: „Mr. Buh-Buh-Buh-Biden, wie heißt das Wort?“

Er hat gelernt: Sag irgendetwas Anderes, wenn du hängenbleibst

Donald Trump verspottet Atemschutzmasken, Biden trägt eine. Trump nennt Biden „Sleepy Joe“ und „senil“ und würde niemals eine Schwäche zugeben. Der Kandidat hingegen werde „Ehre und Effektivität der Präsidentschaft wiederherstellen“, sagt mir der Politologe Nicholas Burns, der Biden berät.

Wir sollten die zweite Wahrheit stets kennen wollen, nicht wahr? Und dann erst urteilen. Joe Biden erzählte noch, dass er als Kind gelernt habe, einfach irgendetwas Anderes zu sagen, wenn er hängenblieb. Und natürlich ist es heute besser, er ist schließlich Berufspolitiker, aber hin und wieder passiert es noch.

Klaus Brinkbäumer

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