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May (Anaïs Demoustier) und John (Tom Mercier) in Das Tier im Dschungel von Patric Chiha.

© Grandfilm

„Das Tier im Dschungel“ im Kino: Der Dancefloor im Rhythmus der reinen Gegenwart

Patric Chihas Kammerdrama „Das Tier im Dschungel“ spielt über einen Zeitraum von 25 Jahren in einem Pariser Nachtclub. Ein faszinierendes Filmexperiment, das alle Sinne aktiviert.

Von Andreas Busche

Wenn die Musik im Club in den frühen Morgenstunden verstummt, beginnt die Zeit wieder einzusetzen. Dieses Gefühl der leerlaufenden Euphorie, den Moment, in dem sich Körper und Außenwelt wieder synchron bewegen, erreicht Patric Chihas Film „Das Tier im Dschungel“ niemals. Die Crowd in dem namenlosen Pariser Nachtclub, in dem die Zeit 25 Jahre gewissermaßen stillsteht, ist eine hochgradig diversifizierte, fluide Feiergemeinschaft; gleichzeitig fühlen sich die Körper in der Menge verloren an.

Jede:r scheint für sich zu tanzen: eingeschlossen in einer eigenen Welt innerhalb einer hermetischen Realität. Zwischen dem Aufbruch der Disco-Bewegung Ende der 1970er Jahre bis zum Anschlag auf das World Trade Center vergehen knapp hundert Minuten großer emotionaler Erschöpfung, alles im Rhythmus der Nacht, die sich stets unter neuen Vorzeichen (und mit einem anderem Soundtrack) zu wiederholen scheint

Warten, dass etwas passiert

John (Tom Mercier) und May (Anaïs Demoustier) sind Protagonisten dieses Ortes und gleichzeitig bloß Beobachter. Sie stehen oder sitzen am Rand der Tanzfläche, zu beschäftigt mit sich selbst – beziehungsweise eingenommen von einem Ereignis, das sich über mehr als zwei Dekaden anbahnt, ohne je einzutreten. Zehn Jahre zuvor hat John ihr zum ersten Mal von einem Geheimnis erzählt, dem er seither auf der Spur ist. Da waren sie noch Teenager.

Als sie sich mit Mitte zwanzig wiederbegegnen (er erkennt sie zunächst nicht), zwischen Garderobe und Toilette, ist sie immer noch gewillt, ihn auf seinem Abenteuer ins Unbekannte zu begleiten, obwohl sie inzwischen mit Pierre zusammen ist. Ihrer Aufforderung zum Tanz kommt John zwar nicht nach, aber sie können auch nicht voneinander lassen.

Ein unausgesprochenes Begehren steht zwischen den beiden, und es verbindet sie. Das verzagte Drängen in Demoustiers Körpersprache prallt an Merciers Nichtkörperlichkeit ab. Das Warten auf ein „Ereignis“, das zur Obsession wird, macht ihn umempfänglich: ein schöner Gegensatz zu Chihas Inszenierung, die in ihrer performancehaft-blasierten Theatralik alle Sinne aktiviert.

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„Das Tier im Dschungel“ basiert auf der gleichnamigen, über hundert Jahre alten Novelle von Henry James, die in der britischen High Society angesiedelt ist. Bei Chiha dient der Nachtclub als Fixpunkt für eine klassenlose Gesellschaft (die Utopie der Clubkultur und des Dancefloors schlechthin).

Es gibt eine strenge, aber den Menschen zugewandte Türsteherin, gespielt von der französischen Ikone Béatrice Dalle, die mit ihrem schwarzen Cape und ihren legendären Vampirzähnen eine besonders enigmatische Nachtgestalt verkörpert. Der schnippische Toilettenwärter wird eher unfreiwillig zum Augen- und Ohrenzeugen der Privatprobleme der Gäste.

May (Anaïs Demoustier) gibt sich dem Rausch hin – in der Hoffnung zu verstehen, was es bedeutet zu leben.

© Grandfilm

Ansonsten sind die Hierarchien aufgelöst. Auch die Gespräche fügen sich allenfalls durch die Musik (von frühem Disco über House und Italo Disco bis zu den immer intensiveren Spielarten des Techno um die Jahrtausendwende) und die Ereignisse, die vereinzelt aus der Außenwelt in den Club dringen (während der Aidskrise leert sich die Tanzfläche gespenstisch), in eine vage Chronologie.

In seinem Formbewusstsein, der Konsequenz, mit der sich der Zustand des Ennuis von den Sounds abkoppelt und stattdessen die Körper mit einer erschlafften Ekstase befällt, schafft Chiha eine kunstvolle Choreografie: ein Tanz der Oberflächen von Menschen und Räumen, in denen sie sich bewegen. Ein Sichverlieren ohne Ketamin und Sex.

„Das Tier im Dschungel“ ist dabei ganz gegenwärtig, obwohl er nicht von der heutigen Clubkultur (einem Berlin-Gefühl á la Berghain etc.) handelt: ein Film über das Fomo-Gefühl, die fear of missing out. Johns Hoffnung darauf, dass irgendetwas passiert, ist so stark, dass das Leben an ihm vorbeizieht. Auch die große Liebe. Im Kino manifestiert sich dieser Zustand der Haltlosigkeit in einer hinreißenden, lähmenden Melancholie.

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