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Jules-Alexis Muenier, „Streit der Kutscher“, 1893.

© 1 Francesco Granacci, Thronende Madonna mit Kind und Johannesknaben, 1519, © Odessa Museum für westliche und östliche Kunst, Foto: Christoph Schmidt

Dem Krieg entzogen: Kunstwerke aus Odessa in der Berliner Gemäldegalerie

Über 70 Gemälde wurden aus dem Odessa Museum nach Berlin evakuiert, um sie vor Luftangriffen zu schützen. Zum zweiten Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine ist eine Vorauswahl zu sehen.

Von Bernhard Schulz

Die Luftschutzsirenen hört man nicht überall. Damit die Warnung dennoch nicht überhört wird, gibt es eine Luftschutz-App. Das Handy warnt seinen Träger.

So erzählt es Iryna Fingerova in ihren Tagebuchnotizen vom Besuch im unentwegt bedrohten Odessa. Die berühmte Potjomkin-Treppe hinunter zum Meer ist abgesperrt, zu gefährlich, denn die russischen Luftangriffe konzentrieren sich auf den Hafen, die Nabelschnur der Stadt.

Fingerova ist Ärztin und Autorin, mit feinem Akzent im flüssigen Deutsch trägt sie ihre Notizen an diesem Abend im Kulturforum vor, im Eingangsbauwerk vor der Gemäldegalerie. In dieser sind jetzt zwölf Gemälde aus der Sammlung des Museums für westliche und östliche Kunst in Odessa zu sehen, als Vorhut eines Konvoluts von 74 Gemälden, die vor den Luftangriffen nach Berlin evakuiert wurden und ab Januar kommenden Jahres für mehrere Monate die Gemäldegalerie bereichern sollen.

Roelant Savery, Paradies, 1618/28.

© © Odessa Museum für westliche und östliche Kunst / Foto: Christoph Schmidt

Die Kulturstaatsministerin hat der Aktion über einige juristische und wohl auch finanzielle Hürden hinweggeholfen, und so spricht denn auch Claudia Roth an diesem Abend und teilt mit dem zahlreichen Festpublikum ihre Begeisterung für Odessa. Wie sagt es danach Iryna Fingerova? „Das Leben feiern ohne Schuldgefühle.“

Feiern können die hiesigen Kunstfreunde zwölf Gemälde, die den Anspruch des Museums – wie den der Stadt und des ganzen Landes –, Teil der europäischen Kultur zu sein, eindrucksvoll untermauern.

Herzstück ist ein trunkener Herkules

Die Sammlung des Museums in Odessa liegt einmal in der niederländischen wie der italienischen Kunst des 17. Jahrhunderts, dann der Malerei des 19. Jahrhunderts; so jedenfalls legt es die Auswahl nahe. Tatsächlich umfassen die Kollektionen des Museums auch Skulptur, Grafik und Kunstgewerbe.

Museumsdirektor Igor Poronyk erklärt kurz und knapp, dass zu Sowjetzeiten „westlich“ für alle Länder westlich der Unionsgrenzen stand, „östlich“ für alle östlich davon, also weit über Sibirien hinaus. Russische oder ukrainische Kunst ist demzufolge nicht in der Museumssammlung zu finden.

Die jetzt in Berlin gezeigte Vor-Auswahl bleibt ganz westlich. Hauptstück - jedenfalls dem Format nach - ist ein trunkener Herkules von Rubens und seiner Werkstatt, ein Sujet, das der flämische Meister wie manche seiner Bild-Ideen in Variationen hinterlassen hat.

Francesco Granaccis „Thronende Madonna mit Kind und Johannesknaben“ von 1519 ist kunstgeschichtlich eines der wichtigsten Werke des Konvoluts.

© 1 Francesco Granacci, Thronende Madonna mit Kind und Johannesknaben, 1519, © Odessa Museum für westliche und östliche Kunst, Foto: Christoph Schmidt

Der kunsthistorischen Bedeutung nach steht hingegen die „Thronende Madonna mit Jesuskind und Johannesknaben“ an der Spitze, ein Altarbild der Hochrenaissance, das Francesco Granacci 1519 in Florenz schuf. Es befand sich, belehrt das Ausstellungslabel den Betrachter, im 19. Jahrhundert in einer römisch-katholischen Kirche in Odessa.

Wie kam es ins Museum? Man muss es aus den Worten des Museumsdirektors erschließen, der berichtet, dass sein im Jahr 1924 eröffnetes Museum unter anderem Werke von Privatleuten vereint, die die junge Sowjetunion verließen. Kurzum, es handelt sich um Enteignungen, wie sie ab 1918 von Staats wegen vorgenommen wurden. Kirchen wurden unter dem Banner des Atheismus schlichtweg geplündert.

Herkunftsgeschichten bleiben unerwähnt

Solche Worte fielen am Montagabend naturgemäß nicht, und Provenienzforschung steht nicht auf dem Programm dieses Kunstaustauschs; da müsste man, so Gemäldegalerie-Direktorin Dagmar Hirschfelder, in die ukrainischen Archive gehen, und das Archiv des Odessaer Museums, so der Direktor, sei im Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstört worden. Im Übrigen gab es zu Sowjetzeiten auch einen „Museumsfonds“, aus dem die 15 Unionsrepubliken bedacht wurden.

Erst einmal gilt es, die Gemälde zu sichern und sie, die rahmenlos nach Berlin kamen, mit neuen Einheitsrahmen zu versehen – „alle uniformiert, wie die Leute in der Ukraine“, witzelt Poronyk –, dann muss das Konzept der Zwiesprache mit den hiesigen Beständen für die große Ausstellung des kommenden Jahres ausgearbeitet werden.

Jetzt schon locken Kleinformate etwa von Roelant Savery, ein „Paradies“ von ca. 1628, oder ein etwas späteres Prunkstillleben von Cornelis de Heem oder die figurenreiche „Seeschlacht“ von Lucas Smout d.J. um 1700.

Beeindruckend unter den Werken des 19. Jahrhunderts ist die verniedlichend „Streit der Kutscher“ betitelte Mordszene des Franzosen Jules-Alexis Muenier von 1893. Da wird dann die Alte Nationalgalerie mit Entsprechungen aufwarten müssen, die selbst kein Werk des wenig bekannten Franzosen besitzt.

„Wir wollen ein Zeichen der Solidarität mit der Ukraine setzen“, hebt Gemäldegalerie-Chefin Dagmar Hirschfelder den Sinn des ganzen Unternehmens noch einmal ins Bewusstsein.

Darin kann die Kulturstaatsministerin vollen Herzens einstimmen, wie auch der ukrainische Botschafter Oleksii Makeiev. Ihm blieb es vorbehalten, in den Dank an die deutschen Partner die von hier gelieferten Abwehrsysteme einzuflechten, „die unseren Luftraum schützen“. Es herrscht Krieg, auch und nicht zuletzt gegen die Kultur.

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