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Der 1979 im schlesischen Pilchowice geborene polnische Schriftsteller Szczepan Twardoch.

©  Zuza Krajweska/Verlag

Szczepan Twardochs neuer Roman: Der gebrochene Unterweltkönig von Warschau

Mir dem wuchtigen Geschichtsroman „Das schwarze Königreich“ setzt Szczepan Twardoch seinen Roman „Der Boxer“ fort. Der neue Teil spielt im Warschauer Ghetto.

Szczepan Twardoch, 1979 geboren im schlesischen Pilchowice, ist einer der bedeutendsten Gegenwartsautoren Polens. Seit seinem 2012 veröffentlichten Roman „Morphin“ hat er rasch ein internationales Publikum gefunden. Zuletzt erschien von ihm „Der Boxer“, ein dunkler Roman über die Halbwelt in der polnischen Hauptstadt vor dem Zweiten Weltkrieg – eine Art „Babylon Warschau“.

In dessen Mittelpunkt steht Jakub Shapiro, der jüdische Unterweltkönig. Er ist Sportler und Kraftpaket, Gangster und Genießer, ein Mann, der Angst verbreitet und Macht ausstrahlt. Polen ist ihm herzlich egal, nicht aber Warschau. Schon halb auf dem Weg ins Exil nach Palästina, hat Shapiro 1937 das Flugzeug zum Verdruss seiner Frau wieder umkehren lassen. Er wollte seine geliebte Stadt, sein Territorium nicht im Stich lassen.

Shapiro meldet sich als Ghetto-Polizist

So endete „Der Boxer“. Twardochs neuer Roman „Das schwarze Königreich“ setzt nun die Handlung in Zeiten des Zweiten Weltkriegs fort. Jakub Shapiro meldet sich zur polnischen Armee und erleidet mit ihr die rasche, demütigende Niederlage. Später wird er aus seiner Stadtrandvilla vertrieben und landet mit seiner Frau Emilia und den halbwüchsigen Söhnen Daniel und David wie alle Juden im Warschauer Ghetto, wo sich ab Herbst 1940 fast 400 000 Menschen auf drei Quadratkilometern drängen müssen.

Der Krieg hat den Unterweltkönig entmachtet. Er könnte auch ein Ghetto-King sein, aber das reizt ihn nicht angesichts des Umstands, dass jeder Wachmann über ihm stehen würde und jeder Deutsche ihn aus einer Laune heraus erschießen könnte.

Vorbei die Zeiten, als Kraft, Energie und Lebenshunger in Shapiro kochten. Und dann macht er noch den Fehler, sich zur jüdischen Ghettopolizei zu melden. Wie die meisten tut er es, um kleine Überlebensvorteile für sich und seine Familie zu erlangen. Seine Frau Emilia jedoch, die sich mit den vielen Affären Jakubs abgefunden hat, kann ihm diese Untreue, sich mit den deutschen Besatzern gemein zu machen, nicht verzeihen. Sie verlässt ihn mit den Söhnen.

Von da an geht es bergab. Jakub ergibt sich dem Alkohol – und seiner ewigen Geliebten Ryfka, die sich als Prostituierte und Puffmutter durchs Leben gekämpft hat und die Kontrastfigur abgibt zur distinguierten Gattin Emilia mit ihrem gutbürgerlichen jüdischen Hintergrund.

[ Szczepan Twardoch: Das schwarze Königreich. Roman. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl. Verlag Rowohlt Berlin, Berlin 2020. 416 Seiten, 24 €.]

Ryfka, die menschliche Ratte, wird im Krieg zur skrupellosen Überlebenskünstlerin. Als zorniges „Nachtungeheuer“ und böse Mutter ist sie unterwegs in der Trümmerlandschaft Warschaus und umsorgt den immer apathischeren Jakub. Mit ihm flieht sie schließlich aus dem Ghetto in ein Versteck am Stadtrand, während Emilia und die Söhne nach Treblinka deportiert werden.

David kann entkommen. Ryfka und David sind die Erzählerfiguren des Romans: Ryfka, die Jakub unbeirrbar liebt, und David, der ihn hasst, weil er ihn mitverantwortlich macht für den Tod von Mutter und Bruder im Vernichtungslager.

Das Thema Kollaboration ist in Polen wieder zum Tabu geworden

Fulminant ist Twardochs Darstellung von Warschau im Zweiten Weltkrieg. Die Stadt war eines der ersten Opfer des modernen Luftkriegs; sie erlebte als erste Metropole den Ausnahmezustand der deutschen Besatzung, hier eskalierte die Judenverfolgung. Es herrschten die Gesetze deutschen Terrors und zugleich die Anarchie des Alltags. Twardochs Roman beschreibt diese Gemengelage beeindruckend, etwa wenn David seine Abenteuer als Ghettoschmuggler erzählt.

Noch vor einem Jahrzehnt wurde in Polen im Zusammenhang mit den Veröffentlichungen des Historikers Jan T. Gross über Kollaboration und polnischen Antisemitismus debattiert. Zum Symbol wurde der Ort Jedwabane, wo Polen 1941 kurz nach dem Einmarsch der Wehrmacht ein Pogrom an ihren jüdischen Mitbürgern verübten.

Unter der Kaczynski-Regierung ist das Thema Kollaboration wieder zum Tabu geworden. Man möchte die Weltkriegszeit auf zwei Narrative beschränkt wissen: Polen als Opfer der Nazis und Polen als Nation der Helden.

Konträr zu solchen Vereinfachungen der komplexen Kriegswirklichkeit schildert Twardoch Szenen, die oft als Provokation empfunden werden, etwa die antisemitischen Exzesse während der ersten Zeit der deutschen Besatzung: Polen „machen Hatz“ auf die Juden; die Juden verteidigen sich. Und die Deutschen beobachten das Spektakel amüsiert: „Die kleinen Kameras der Kriegskorrespondenten ratterten fröhlich.“

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Die Übersetzung von Olaf Kühl ist nuanciert und liest sich wie ein Original. Man muss den „Boxer“ nicht kennen, um der Handlung gut folgen zu können. Zwar ist Jakub Shapiro nur noch ein Schatten seiner selbst, eine passive Gestalt, am Ende eine Art Pflegefall für Ryfka.

Diese Schwächung wird kompensiert durch die eindringliche Darstellung anderer Lebensschicksale, darunter das des schlesischen Wehrmachtssoldaten Jorg Konopka, der eigentlich nur, wie seine Vorfahren, ein Bergmann sein wollte, sich dann aber bei Exekutionen an den Massengräbern in der Ukraine wiederfindet. Er desertiert und wird später zum Begleiter von Ryfka und Jakub.

Permanente Angst vor Denunzianten

Und wir lesen von dem Ukrainer Miron Maslanczuk, der eigentlich nur wie seine Vorfahren ein einfacher Bauer sein wollte. Er gerät er in die Blutmühlen des Sowjetkommunismus, macht das ganze Elend von Bürgerkrieg, Kollektivierung und Holodomor durch. Seine Frau und Kinder sterben grässliche Hungertode.

Maslanczuk schließt sich 1941 den deutschen Eroberern an, die er als Befreier empfindet. Er wird zu einem Schergen im Holocaust, zu einer emotionslosen Tötungsmaschine. Diese Figur verkörpert mehr als jede andere des Romans Szczepan Twardochs Poetik der universalen Gleichgültigkeit und des sinnlosen, aber deshalb nicht weniger schmerzhaften Leidens.

Man kann einige Einwände gegen diesen Roman geltend machen. Eine merkwürdige Konstruktion ist das formelhaft beschworene graue „Hiermals“ als mysteriöser Ort, von dem aus Ryfka und David, mit nachträglicher Allwissenheit ausgestattet, erzählen.

Das wird nicht wirklich plausibel, kann den Gesamteindruck aber nur wenig schmälern „Das schwarze Königreich“ ist ein wuchtiger, unter die Haut gehender Geschichtsroman. Vieles darin – Episoden über das Warschauer Ghetto, Ryfkas und Jakubs Leben im Versteck am Stadtrand, die permanente Angst vor Denunzianten – hat man in dieser Intensität bisher vielleicht nur durch ein Buch vermittelt bekommen: Marcel Reich-Ranickis „Mein Leben“.

Man wüsste gern, wie Reich-Ranicki über diesen Roman geurteilt hätte, der so nah an seinem Lebenstrauma angesiedelt ist. Mag sein, dass er mit Jacub Shapiro gehadert und einige splatterhafte Beschreibungen entbehrlich gefunden hätte. Dennoch hätte er wohl seinen Respekt bezeugt und bewundert, wie authentisch Szcepan Twardoch Details einer Welt vermittelt, deren Schrecken sich lange vor seiner Geburt ereignet haben.

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