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Kultur: Der Gipfelstürmer

Ein Schweizer wandert durch Berlin: Till Hein hat aufgeschrieben, wie er die Stadt sieht – und erklimmt den Kreuzberg.

„Im Frühtau zu Berge wir ziehn, fallera./Es grünen die Wälder, die Höhen, fallera.“ Wenn das an diesem Morgen in der Kreuzbergstraße nicht gerade das rechte Wetter für eine Bergpartie ist. Sonnig, klar und frisch. Auch der andere Teil der Seilschaft ist schon da. Till Hein, 43, gebürtiger Baseler, gelernter Berliner, Journalist und neuerdings auch Autor der Stadtplauderei „Der Kreuzberg ruft – Gratwanderungen durch Berlin“ sitzt gestiefelt und gespornt auf einem Mäuerchen unterhalb des Wasserfalls, blinzelt durch die Intellektuellenbrille in den hellen Tag und liest als subtiles Erkennungszeichen in seinem eigenen Werk. Klarer Fall, dass ein Mann, der so leichtsinnig ist, seinen Hauptstadtimpressionen diesen Titel zu geben, zu einer Tour auf die 66 Meter hohe Erhebung antreten muss.

Was seine Idealroute ist? Unter seinem schweren Rucksack zuckt Hein die schmalen Achseln. „Keine Ahnung, ich war drei Jahre nicht da.“ Seitdem er mit der Familie am Zickenplatz wohne, schaffe er es kaum noch zum Mehringdamm, vom Viktoriapark ganz zu schweigen. „Mein Lebensmittelpunkt hat sich um mehrere 100 Meter verschoben.“ Und was das in Berlin für verheerende geografische Folgen hat, weiß man als standorttreuer Kiezler ja. Selbst die 1290 erstmals urkundlich erwähnte, heute Kreuzberg genannte Südgrenze des Berliner Urstromtals, über die Hein in seinem Buch allerlei Wissenwertes erzählt, gerät einem da leicht aus dem Blick.

In den Blick wiederum ist dem studierten Germanisten, Historiker und Slawisten, der beim österreichischen Nachrichtenmagazin Journalismus gelernt hat, beim SZ-Magazin arbeitete und jetzt für „Mare“, „Geo“, „Die Zeit“ oder „Der Standard“ meist über Wissenschaftsthemen schreibt, vor allem eins geraten: dass das Großstadtgebirge allerlei echte und ausgedachte Gipfel, Grate, Täler und Saumpfade durchzieht.

Leider verfügt die Spitze des Kreuzbergs nicht über ein Gipfelkreuz – ebenso wie die des Teufelsbergs, der Rixdorfer- oder Humboldthöhe, die Hein in seinen 30 munteren Episoden, die Tagesspiegel-Leser zur Hälfte schon aus seiner Kolumne „Der Neuberliner“ kennen, beschrieben hat. Dafür grüßt das Schinkeldenkmal aufmunternd herunter. Auf der Brücke über den Wasserfall ist es Zeit für eine kurze Rast auf halber Höhe. Die auf dem asphaltierten Weg bergauf laut klackenden Wanderstöcke hat Hein inzwischen stillschweigend weggepackt. Er geniert sich, obwohl sich weder Jogger noch Touristen um seine alpine Aufmachung scheren. Ab Mitte 30 brauche man Stöcke, sagt er und erzählt von seiner jüngsten Hüttentor im Engadin, wo so manches karge Geröllfeld zu passieren war. Hier dagegen sehe das Buschwerk so zugewachsen aus wie am Amazonas, kommentiert er die Kreuzberger Bergkräuter. Von überraschenden Beobachtungen wie diesen lebt Heins nicht wahnsinnig substanzielles, aber charmantes Buch. Neben etwas rangeklebt wirkendem Lexikonwissen über Stichworte wie Currywurst, Oberbaumbrücke, Spree oder Charlottenburg bildet es vor allem die Berliner Lehr- und Wanderjahre des Ich-Erzählers seit 2001 ab.

Autor Hein legt großen Wert darauf, zwar starke Ähnlichkeit mit diesem Herren zu haben, aber nicht mit ihm identisch zu sein. Das kann man glauben oder lassen. Seine ansprechende Idee jedenfalls, sich von der nicht abreißenden Flut der Berlin-Bücher dadurch abzusetzen, alles Erlebte im Lichte der Bergsehnsucht des Schweizer Immigraten zu sehen, hält er gut durch. Wenn man mal davon absieht, dass jemand, der aus dem 260 Meter über dem Meeresspiegel gelegenen Basel kommt, die Alpen auch nur aus der Ferne kennt. Als Schweizer identifiziere man sich trotzdem damit, protestiert Till Hein und erzählt von den alpinen Pfadfinderlagern seiner Kindheit.

Ins flache Berlin hat ihn getrieben, was viele hertreibt. Die Suche nach dem Glück, die billigen Mieten aber auch das Musical „Linie 1“. Die darin auftretenden coolen Typen haben sein zwar zaghaftes, aber trotzdem nach Abenteuern dürstendes jugendliches Herz im beschaulichen bürgerlichen Basel mächtig beeindruckt, wie er im Buch beschreibt. Und obwohl er in den im Dezember voll werdenden zehn Jahren in verschiedenen Bezirken gelebt hat, ist die Stadt für ihn immer Kreuzberg geblieben und vielleicht ein bisschen Neukölln. „Ich weiß nichts über Steglitz und Zehlendorf“, sagt Hein, der trotz verschiedener im Buch nachzulesender Häutungen kindlich erstaunt durch die Stadt wandert. Manche Leute störe diese Haltung, sagt er, aber er betrachte sie als Qualität.

Die Sonne wärmt jetzt doch ganz schön. Und trotz der milden Steigung stellt sich im Gespräch eine leichte Kurzatmigkeit beim Gipfelstürmer Hein ein. Bevor sie noch schlimmer werden kann, ist das Bergplateau erreicht. Noch die paar Treffenstufen hoch zum Denkmal und Berlin liegt dem Wanderer Hein zu Füßen. Ein paar laut lamentierende Spanier sind ebenfalls da. In der Ferne blinkt es golden. Hein stutzt. Das ist doch? Na, klar! Ehrliche Überraschung liegt in seiner Stimme als er ruft: „Man sieht die Siegessäule von hier oben – ist ja Wahnsinn.“ Nein, man kann wirklich nicht sagen, dass sich Berlin für ihn abgenutzt hat. Und spätestens am Ende, wenn er die Gefühle eines Eidgenossen in der Loipe auf dem Tempelhofer Feld offenbart, ist klar, dass das hier die Liebeserklärung eines Berliners mit Migrationshintergrund ist. Hein nimmt den Rucksack ab und lässt sich auf den Stufen des Kreuzberg-Denkmals nieder. Er habe die Stadt sehr lieb gewonnen, sagt er. Basel mit seinen 200 000 Einwohnern, ja die Schweiz überhaupt verursache ihm regelmäßig ein Gefühl der Enge. „In Berlin kann man wenig Geld haben, kein Standing und trotzdem überall mitmachen. Das gibt eine gewisse Würde, die in der Schweiz schnell flöten geht.“ Natürlich gibt’s auch Dinge, die er nicht mag. Die Anonymität, die mangelnde Neugierde, das Satte und natürlich das Niedrige, Flache. Dagegen lässt sich allerdings was tun. Am Horizont steigt in Mitte gerade der Sightseeing-Fesselballon auf.

Till Hein: „Der Kreuzberg ruft – Gratwanderungen durch Berlin“, Bebra Verlag, 256 Seiten, 14,95 €; Buchpremiere: 26. September, 20 Uhr, BKA, Mehringdamm 34, Kreuzberg

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