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Isabelle (Juliette Binoche) muss ihre beiden Söhne Lucas (Paul Kircher, oben) und Quentin (Vincent Lacoste) loslassen.

© Jean-Louis Fernandez

„Der Gymnasiast“ im Kino: Fallen, lieben und immer weiter stürmen

Christophe Honoré behandelt in „Der Gymnasiast“ den frühen Tod seines Vaters. Und was es bedeutet, als schwuler Teenager in der Provinz aufzuwachsen.

Lucas zerreißt es nicht sofort. Alles, woran er zunächst denken kann, ist, dass er gerade mit Schuhen im Bett liegt und ihn deswegen gleich jemand anherrschen wird. Doch dann brechen seine Schreie umso lauter und verzweifelter aus ihm hervor. Lucas (Paul Kircher) presst das Kopfkissen auf sein Gesicht, strampelt mit den Beinen: Die Nachricht vom Unfalltod seines Vaters ist zu gewaltig, sie sprengt seinen Körper. „Mein Leben ist zu einem wilden Tier geworden, dem ich mich nicht nähern kann, ohne gebissen zu werden“, bekennt er mit Blick in die Kamera.

Ein gewöhnlicher Teenager aus einem Provinzdorf

Die Dimension des Todes lässt sich weder angemessen besprechen noch abbilden. Das kleine Kreuz, das am Rand der Landstraße an den Verlust eines Menschenlebens erinnert, ist unscheinbar, man könnte es fast übersehen. Nicht von ungefähr setzt es der französische Filmemacher Christophe Honoré zu Beginn beiläufig ins Bild. Von Missverhältnissen umgeben und in Widersprüchen gefangen zu sein: Das sind in „Der Gymnasiast“ emotionale Wahrheiten und Wahrnehmungsweisen. Noch eben war der 17-jährige Lucas ein gewöhnlicher Teenager, der in einem Provinzdorf am Fuße der Alpen das Gymnasium besuchte und seine Sexualität mit seinem Freund Oscar erkundete. Von einem Moment auf den anderen stürzt er ins Chaos. „Ich erkenne nichts mehr“.

Christophe Honoré, der im Teenager-Alter selbst den Vater verlor (und die kleine Rolle übernommen hat), nähert sich in seinem bisher persönlichsten Film dem überfordernden Durcheinander von Auflösung, Schmerz, Betäubung, Wut und Verwirrung, das der Tod im Leben der Zurückgelassenen anrichtet. Gleichzeitig geht das Leben weiter, der Alltag, die Arbeit, die Politik. Nach der Beerdigung wird beim Essen hitzig über den Rechtsextremen Éric Zemmour debattiert.

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Mutter Isabelle (Juliette Binoche), im eigenen Schmerz zurückgenommen, versucht den Teenager-Sohn aufzufangen, der seinerseits als verbleibender „Mann“ an ihrer Seite eine neue Verantwortung spürt. Quentin (Vincent Lacoste), der ältere Bruder, ist längst ausgezogen und dabei, sich in Paris ein Leben als Künstler aufzubauen. Sofort kommt es zwischen den beiden zu Raufereien, denen sie eigentlich längst entwachsen sind. Dann liegen sie sich aber auch schon wieder fest in den Armen.

In den Filmen von Christophe Honoré sind die Vorwärtsbewegungen oft so stürmisch, dass ein Festhalten nicht möglich ist. Gefallen, lieben und schnell laufen – mit diesen unzusammenhängenden Verben skizzierte der schöne Originaltitel von „Sorry Angel“ („Plaire, aimer et courir vite“, 2018) die Geschichte eines an Aids erkrankten Schriftstellers. Auch „Der Gymnasiast“ bewegt sich an einer Bruchstelle. Herzergreifend nah an Lucas und seinen immer wieder zum abwesenden Vater gesprochenen Gedankenbewegungen will der Film das Chaos nicht ordnen. Vielmehr begibt er sich sich mitten hinein in den Strudel, der von der Gleichzeitigkeit verschiedener Gefühlsregungen bestimmt ist.

Hedonismus und Metaphysik

Während er eine Woche bei dem oft ruppigen Quentin und seinem sanften Mitbewohner Lilio (Erwan Kepoa Falé) in Paris verbringt, stürzt sich Lucas in sexuelle Begegnungen. Er ist empfänglich für alles und jeden, um im nächsten Moment im pathetischen Vorsatz die Liebe „opfern“ zu wollen. Nachdem er in einer Kirche mit einem Pfarrer ein Gespräch über Auferstehung und Hoffnung führt, schläft er zum ersten Mal mit einer Grindr-Bekanntschaft.

So wie sich in dem aufgewühlten Kopf des Teenagers alles mischt, so mischt auch Honoré den Hedonismus mit der Metaphysik, wenn er beide Ereignisse in Form einer Parallelmontage nacherzählt. Im filmischen Kosmos von Honoré gibt es stets eine Fülle an Möglichkeiten. Wenn Lucas Lilio schon nicht küssen kann, geht er mit ihm eben joggen. Auch das kann erfüllend sein.

So abrupt die Stimmungswechsel auch sind, so ungestüm die Bewegungen und konfus die Gedanken: „Der Gymnasiast“ hält bei aller Nähe, die nicht zuletzt die Handkamera von Rémy Chevrin herstellt, immer einen gewissen Abstand zu seiner Hauptfigur. Manchmal liegt ein kühler, blau-violetter Farbton über den Bildern, als würde Honoré im Aufruhr des Herzens etwas Unauthentisches ausmachen wollen; eher ein Suchen nach dem richtigen Ton und ein Zweifeln als den Ausdruck einer wahrhaftigen Empfindung.

Ebenso kann die Musik ein Gefühl im selben Maße treffen wie verfehlen. Als die Mutter mit ihren Söhnen ein passendes Stück für die Trauerfeier auswählen möchte, erinnert sie sich an den gemeinsamen Lieblingssong: „Electricity“ von OMD. Nach den ersten elektronischen Beats brechen die drei in Lachen aus: „Das wird nicht funktionieren“, meint Isabelle. Musik wandert von einer Situation zur nächsten, sie wird geteilt, dem anderen vorgespielt und wenn sie im richtigen Moment zur Sprache wird, wie am Ende von „Der Gymnasiast“, so kann sie ein kleines Glück bedeuten.

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