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Die traumatisierte Enid (Niamh Algar) guckt beruflich brutalste Horrorfilme.

© Kinostar

Horrorfilm "Censor" im Kino: Die Szene mit dem Augen-Ausdrücken muss raus

Die Regisseurin Prano Bailey-Bond hat mit dem Psycho-Horrorfilm "Censor" eine kleine schmutzige Hommage an die Ära der "Video Nasties" gedreht.

Mitte der Achtziger schien die Moral des Britischen Königreichs in Gefahr. Die Tugendwächter hatten die Welle von billig produzierten und extrem gewalttätigen „Schundfilmen“ – vor allem aus Italien und den USA – als Bedrohung des gesunden Volksempfindens ausgemacht. Die sogenannten „Video Nasties“ fluteten damals den noch jungen VHS-Markt.

Zumindest bis sich das British Board of Film Classification, vergleichbar mit der deutschen FSK, dieser Veröffentlichungen annahm. 72 Titel wie „The Driller Killer“, „Cannibal Holocaust“ und den mittlerweile zum Klassiker avancierten „Evil Dead“ setzte die Behörde auf ihre Verbotsliste. Die Maßnahme heizte den Hype erst recht an, in den Videotheken zirkulierten sie unter dem Ladentisch weiter als abgenudelte VHS-Kopien.

In dieser Behörde, die bis 1984 ganz unverblümt British Board of Film Censors hieß, arbeitet die Protagonistin der Video-Nasties-Reminiszenz „Censor“. Enid (Niamh Algar) verbringt ihre Tage damit, sich die brutalsten Filme anzusehen und zu entscheiden: zulassen, die schlimmsten Szenen rausschneiden oder ganz verbieten?

Die Irin Algar spielt sie als blasse Retterin des britischen Seelenheils. Die Haare hochgebunden, die Bluse bis oben zugeknöpft, sitzt sie im Vorführraum und schreibt in ihren Notizblock Sätze wie „Das Augen-Ausdrücken muss raus!“.

Bald wird klar: Hinter der Strenge schimmert Verletzlichkeit durch. Ein Trauma schlummert in Enid, das durch einen „Video Nasty“ namens „Don’t Go in the Church“ wachgerüttelt wird. In der Kindheit verschwand ihre Schwester Nina spurlos. Nun sieht sie im Vorführraum zwei Mädchen, die im Wald spielen, eine unheilvolle Hütte, einen Mord – und merkt: Das sind Erinnerungen an ihren letzten Tag mit Nina. Kein Zufall, glaubt sie und beginnt hinter den Kulissen der B-Movie-Industrie nachzuforschen. Ist ihre Schwester noch am Leben?

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Die Regisseurin Prano Bailey-Bond, Jahrgang 1982, wuchs selbst mit „Video Nasties“ auf. Die Sympathie der Waliserin für den „Schund“ ist ihrem Langfilmdebüt „Censor“ eingeschrieben. Sie spielt mit der VHS-Ästhetik, lässt mal den Ton rauschen, mal das Bild spratzeln, und vermittelt gleichzeitig ein Gefühl für die herrschende Hysterie im England der Achtziger.

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Die Kamera von Annika Summerson folgt der Hauptfigur durch dämmrige Büros, durch Straßen und die Gänge von U-Bahnstationen. Eine Gefahr schleicht sich an. Doch sind es keine Monster, sondern die Geister der Vergangenheit, die in Enids Innerem hausen.

Brachiale Ironie in einem bedrückenden Film

Am effektivsten ist „Censor“, der dieses Jahr schon auf der Berlinale lief, wenn die Grenzen zwischen Wachen und Träumen verwischen. Dann fließen intensive Rot- und Blautöne in die grau gehaltene Alltagswelt Enids, durch die sie zunehmend wie im Fieberwahn taumelt. So wird „Censor“ zur visuell eindrucksvollen Zerfallsstudie einer traumatisierten Seele – allerdings nicht für sehr lange.

Etwa ab der Hälfte wechselt Bailey-Bond unvermittelt den Tonfall: Die Regisseurin, die das Drehbuch mit Anthony Fletcher geschrieben hat, gibt jede Zurückhaltung auf und macht sich die Gewalt der „Video Nasties“ selbst zu eigen.

Mit dem ersten grotesk überzeichneten Todesfall hält eine brachiale Ironie Einzug in den bis dahin bedrückenden Film. So mutiert der Psychothriller zur Horror-Hommage mit augenzwinkerndem Gestus, aus der der sorgsam aufgebaute Druck langsam entweicht. Letztlich bleiben damit viele Gedankengänge, die „Censor“ anstößt, unvollendet: zu den Nebenwirkungen einer staatlichen Zensur, zu den Folgen eines überhitzten medialen Diskurses, zur Kraft des Horrorfilms als Schlüssel zu verschütteten Bereichen der Seele. Alles Nebensache, wenn Enid am Ende zur Axt greift. (In zehn Berliner Kinos; OV: b!Ware, Rollberg, Tilsiter)

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