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Weltraumgefühl. Ein Prag-Tourist schwebt in einem luftgepolsterten Riesenball über die Moldau.

© AFP/Michal Cizek

Debütroman von Jaroslav Kalfař: Die Venus-Wolke

Der junge amerikanische Autor Jaroslav Kalfař erfindet in seinem rasanten Debütroman die böhmische Raumfahrt neu. Ein Besuch in Prag.

Prag wirkt wie eine historische Puppenstube. Oder ist ein zweites Disneyland. Den Eindruck haben alle, die in den vergangenen Jahren aus welchen Gründen auch immer hier waren. Wer ein zweites oder drittes Mal angereist kommt, hat es ziemlich schnell satt, sich als einer von täglich zehntausenden Touristen über die Karlsbrücke und anschließend die Burg hinauf zu drängeln, vor der astronomischen Uhr zu stehen oder um den Wenzelsplatz herumzuschlawinern. Andererseits: Es gibt an einem späten, gar nicht mal so heißen Sommerabend nur wenig Schöneres, als sich auf die der Burg gegenüberliegende Seite der Moldau zu setzen, an die Uferpromenade mit ihren sich kilometerweit erstreckenden Bier- und Imbissständen sowie Soundsystemen, und unter den Brücken hindurch hoch auf die Burg zu blicken, wie sie in der untergehenden Sonne erstrahlt.

Diesem Schauspiel muss man sich einfach ergeben, durchaus bei ein paar goldbraunen tschechischen Bieren. Auch Jaroslav Kalfař  mag sich dem nicht entziehen, zumindest die wenigen Male, die er in Prag noch ist. Kalfař  ist hier 1988 geboren und aufgewachsen, in einem Haus mitten im Zentrum, nicht weit von der Synagoge entfernt. Nachdem seine Eltern sich getrennt hatten, folgte er im Alter von 15 Jahren seiner Mutter in die USA nach, „unfreiwillig“, wie er sagt, nach Florida, wo sie arbeitete. Er schließlich begann englische Literatur und Philosophie zu studieren. Inzwischen lebt er in Brooklyn, New York, und er schaut mit seinem blondrötlichen Vollbart, Ohrringen, dunklen Klamotten und einer Weste über dem Hemd um einiges cooler aus als die einheimische und touristische Jugend, die sich nach und nach auf der Moldau-Partymeile einfindet.

Vom Kartoffelacker ins All

Der Grund für Kalfařs Prag-Besuch in diesem Sommer: sein Debütroman „Spaceman of Bohemia“, der im Frühjahr in den Staaten veröffentlicht wurde und dieser Tage unter dem Titel „Eine kurze Geschichte der böhmischen Raumfahrt“ auf Deutsch erscheint. Kalfař erzählt darin vom Leben eines Astrophysikers namens Jakub Procházka – einerseits von dessen Kindheit und Jugend, die dieser bei seinen Großeltern in dem kleinen Dorf Středa verbringt, da die Eltern bei einem Seilbahnunfall starben.

Andererseits geht es in Kalfařs Roman um Procházkas Mission als Raumfahrer, Diese beginnt an einem Apriltag des Jahres 2018, als er mit seiner Raumfähre „JanHus1“ von einem staatlichen Kartoffelacker aus ins All geschossen wird: „Blitzartig warf JanHus1 einen vogelähnlichen Schatten auf die hundert Türme der Stadt. Einwohner wie Touristen verfolgten den bogenförmigen Aufstieg des Raumschiffs, bis es schließlich im Sonnenlicht verschwand, ein winziger Punkt nur noch, eingefangen von hochentwickelten Kameraobjektiven.“

Procházka soll sich auf die Suche nach Chopra machen, einer nach ihrem indischen Entdecker benannten Wolke, die sich zwischen Venus und Erde gebildet hat, und Proben ihres kosmischen Staubes entnehmen, auf dass dieses neue Phänomen des Alls besser untersucht werden könne. Natürlich ist Procházka auf dieser Mission nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Privatmann, der von seiner Frau Lenka verlassen wird, weil diese sich ihrerseits von ihm verlassen fühlt. Nicht zuletzt ist er ein Nationalheld, der Mann, der den Tschechen und ihrer gerade mal aus zehn Millionen Einwohnern bestehenden Nation „sensationellen wissenschaftlichen Ruhm verschaffen würde“.

Ein Roman voller tschechischer Geschichte

Kalfař hat mit „Die Geschichte der böhmischen Raumfahrt“ einen rasanten, turbulenten Debütroman geschrieben; einen Roman, der an die frühen Bücher eines Jonathan Safran Foer oder eines Gary Shteyngart erinnert. Der von Anlage und seinem satirischen Ton her, seinen mitunter absurden Szenen im All, wo Procházka zudem einem spinnenartigen Wesen aus einer anderen Galaxie begegnet, jedoch viel mehr noch in einer tschechischen Kunsttradition steht: des Satirikers Jaroslav Hlasek, des Filmemachers Jiři Menzel oder der Romanciers Bohumil Hrabal und Josef Skvorecky.

Zumal Kalfařs Roman voller tschechischer Vergangenheit und Geschichte steckt. Der Reformator Jan Hus aus dem 15. Jahrhundert hat hier seinen Auftritt, sein Schicksal ist das Vorbild für das, was Jakub Procházka am Ende blüht. Es gibt viele Reminiszenzen an die Schicksalsjahre des Landes, 1968 und 1989, an die Zeit des Sozialismus, auch weil Jakubs Vater Geheimdienstspitzel war. Und nicht zuletzt hat es wirklich einen tschechischen Raumfahrer gegeben, Vladimir Remek, 1978. Dieser war der erste nichtsowjetische und nichtamerikanische Astronaut im All.

Jaroslav Kalfař wurde 1988 in Prag geboren. Er wuchs in Florida auf. Jetzt ist er mit seinem ersten Roman nach Tschechien zurückgekehrt – ganz in der Tradition des Landes.

© Grace Ann Leadbeater

Kalfař sagt an diesem Abend an der Moldau, dass er zwar räumlich weit weg gewesen sei, das Geld habe nach seinem Weggang 2003 nur für zwei Heimatbesuche gelangt. Mit dem Herzen und dem Kopf und „überhaupt allen Sinnen“ sei er jedoch stets in Tschechien gewesen, auch literarisch und was Politik und Gesellschaft anbelangt. „Als ich 2008 erstmals zurückkam, war ich überrascht, wie sehr sich alles verändert hatte innerhalb dieser fünf Jahre! Wie voll die Straßen waren mit Leuten aus den unterschiedlichsten Ländern, die alle möglichen Sprachen sprechen, wie viele Shops und Fastfood-Restaurants neu aufgemacht hatten.“

Den Einwand, dass das alles doch schon kurz nach der Wende in den neunziger Jahren angefangen habe, lässt er gelten. Als Kind und Jugendlicher sei er damit jedoch aufgewachsen, aus der Entfernung und nach längerer Abwesenheit würde man das jetzt viel klarer sehen. „Natürlich ist das großartig, dass Prag, dieses Land, so viele fremde Menschen anlockt, und trotzdem ist es andererseits bestürzend zu sehen, wie sehr die Kommerzialisierung hier alles unter sich begräbt, gewaltsam geradezu, wie die vielen alten Bauten hinter den Shops verschwinden.“

Reflexionen über Wirklichkeit

Jaroslav Kalfař  führt seinen Besucher dann allerdings auch an die meist besuchten Plätze der Stadt. Wohl weil es die Schauplätze sind, an denen Jakub und seine Frau Lenka sich kennen- und lieben lernen. Etwa an den Wenzelsplatz, wo sich Jakub fragt, „ob der Platz trotz der Leuchtreklamen nicht ein bisschen farblos ist, möglicherweise reif für eine weitere historische Klimax“. Oder an die Karlsbrücke, auf der Kalfař in dem ganzen Trubel bemerkt: „Ohne die Maler, die Taschendiebe, die Asia- und Eurotouristen und die bummelnden Paare wäre die Brücke eine kalte, furchterregende Erinnerung an gotische Schwelgerei.“

Für ihn sei dieses Prag durchaus ein seltsamer Traum, „aber mehr noch ein Teil meiner Kindheit, ein riesiger Erinnerungsraum“, sagt er auf der Brücke stehend und einmal rundherum weisend. Genau aus diesem Grund sollte sein Debüt aber auch kein reiner Kindheits- und Jugenderinnerungsroman werden. „Ich wollte mehr. Ich wollte etwas schreiben, das größer ist als ich selbst“, erklärt Kalfař , jetzt ganz Amerikaner. So gibt es in seinem Roman nicht nur Ausflüge in die tschechische Geschichte, sondern auch dezente philosophische Exkurse, Reflexionen über die Wirklichkeit: „Was, wenn unsere Existenz nun selbst Gegenstand eines Wahrscheinlichkeitsexperiments des Universums ist“, fragt sich Jakub einmal.

Kalfařs Buch ist in Tschechien Bestseller geworden

Kalfařs Geschichte vermittelt davon Anklänge, liegt aber, rein physisch und ganz ohne Experiment aus dem Englischen in die Landessprache übersetzt, auch schon in tschechischen Buchläden und ist ein Bestseller geworden. Skeptisch seien sie von Natur aus, seine Landsleute, so Kalfař , zudem bei jemandem, der seit 13 Jahren nicht mehr im Land wohne: „Was weiß der schon noch von unserem Land?“ Sie scheinen sich jedoch in dem Roman wiedergefunden zu haben darin, „ihren Charakter, ihre nationale Identität“.

Jaroslav Kalfař  freut sich, als er das sagt. Er wirkt nun wie der verlorene Sohn, der gegen seinen Willen das Land verlassen musste, das ihn nun wieder in die Arme schließt – auch weil er einen ebenso absurden wie realistischen, einen gleichermaßen komischen, klugen und melancholischen, vor allem aber als junger amerikanischer Autor einen typisch tschechischen Roman geschrieben hat.

Jaroslav Kalfař: Eine kurze Geschichte der böhmischen Raumfahrt. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Barbara Heller. Tropen Verlag, Stuttgart 2017. 364 Seiten, 22 €.

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