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Was für ein Narrativ hat dieser Mann?

© Darko Vojinovic/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Spiegelstrich: Dort drüben, in der anderen Welt

Der Begriff „öffentliche Meinung“ ist in totalitären Gesellschaften besonders absurd. Wie soll man Putin noch erreichen?

Klaus Brinkbäumer ist Programmdirektor des MDR in Leipzig. Sie erreichen ihn unter Klaus.Brinkbaeumer@extern.tagesspiegel.de oder auf Twitter unter @Brinkbaeumer.

Identitätspolitik ist die Tragödie unserer Zeit. Sie braucht (und darum erzeugt sie) Verklärung und Verdammung, also beständige Verdrehungen der Wirklichkeit, und diese rechtfertigen Verbrechen und Krieg. Identitätspolitik bedeutet, dass eine angeblich natürliche Ordnung wiederherzustellen sei, und weil das Ziel heilig ist, schlägt es Empathie und internationales Recht.

Es lässt sich nicht mehr sagen, ob Wladimir Putin zu Beginn seiner Amtszeit seine heutigen Lügen schon glaubte; wahrscheinlich ja, aber nicht so wahnhaft. Damals ging es ihm um Wirtschaftliches, das eigene Vermögen, das seiner Kumpane, ein wenig sogar das des Volkes.

Dies ist sein Verbrechen an Russland: Liberalisierung und Demokratie hätten Wohlstand und Freiheit für viele möglich gemacht, der Herrscher wählte Restriktion und Paranoia.

Heute scheint Putin sich selbst den ukrainischen Genozid an Russen zu glauben, die ukrainischen Biowaffen, die Nazis in der Regierung in Kiew. Heute, fraglos, ist Putin überzeugt von jener Parallelwelt, die er selbst erfunden hat. Er lebt darin.

Als die Pandemie begann, zog sich Putin aufs Land nach Valdai zurück, und dort hockte er mit seinem letzten Vertrauten Yuri Kovalchuk, dem die Mehrheit der Rossiya Bank und sogenannte Medienhäuser gehören und der einen nicht phantasielosen Lehrmix aus christlich-orthodoxem Mystizismus, Anti-Amerikanismus und russischem Übermenschentum daherflüstert.

An Nachrichten und Sorgen aus dem eigenen Land, an internationalen Themen wie Klima sei Putin nicht mehr interessiert, so heißt es im Kanzleramt.

Wenn einer wie Putin in seiner Welt Entscheidungen trifft, die dort auf krudestem Unfug gründen, aber in der wirklichen Welt wirken: Wie ihn dann erreichen?

In die Reihe von Ivan dem Schrecklichen, Peter dem Großen und Josef Stalin

Der totalitäre Herrscher, im Allgemeinen, zwingt das eigene Volk in Armut und Unfreiheit, sagt zugleich, dass er der Einzige sei, der das Volk vor Unfreiheit und Armut schütze. Dieser totalitäre Herrscher, im Besonderen, stelle sich, so erzählt es Masha Gessen vom „New Yorker“, in die Reihe von Ivan dem Schrecklichen, Peter dem Großen und Josef Stalin.

Und er sage, dass all die freien Nationen in Russlands Nachbarschaft eben nicht frei seien, denn das großrussische Reich sei der einzig denkbare Zustand auch für sie: Putin sagt’s, also stimmt’s.

Wer in Russland in diesen Wochen nicht gezielt recherchiert, sondern so wie halt immer den Fernseher laufen lässt, kann nicht glauben, dass es in der Ukraine einen Krieg gebe, schon gar nicht, dass Russland diesen begonnen habe.

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Russlands Medien, inklusive Legionen von TikTok-Nutzern, verbreiten das Narrativ der Regierung: Es ist eine Militäraktion zur Befreiung der Ukraine. Umfragen, denen zufolge 60 Prozent der Bevölkerung den Krieg unterstützten, lügen.

Gefragt wird weder nach dem Krieg noch nach einer Invasion, da beide Wörter verboten sind. Das hat Putin geschafft: Eine Befragung in der Parallelwelt verlängert und verschärft hier den Krieg, der dort nicht existiert.

Darum hat die russische Bevölkerung vermutlich keine Ahnung, welche Folgen der Zusammenbruch der Wirtschaft und die internationale Ächtung haben werden. Es gibt in Russland keine Analysen, keine Abstrahierung, es gibt keinen Kontext, keine Wahrheitssuche.

Masha Gessen schreibt in „The Future is History“, dass wir in totalitären Gesellschaften nicht herausfinden könnten, was die Menschen dort denken, weil wir nicht wirklich fragen und die Menschen dort nicht wirklich denken dürfen. Der Begriff „öffentliche Meinung“ wird dann absurd, wenn es weder Öffentlichkeit noch Meinungen gibt.

Wo so wenig bekannt ist, ist immerhin Überraschendes möglich.

Klaus Brinkbäumer

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