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Gesellschaft im Zerfall. Szene aus der meisterlichen Inszenierung von „Der Idiot“ am Theater an der Wien.

© Monika Rittershaus

Dostojewskis „Der Idiot“ in Wien: Zu gut für diese Welt

Diese Oper trifft den irrationalen Nerv der Zeit. Das Theater an der Wien zeigt am Museumsquartier Myczieslaw Weinbergs Vertonung von Dostojewskis „Der Idiot“.

Von Eleonore Büning

In Wien ist ein Meisterwerk zu besichtigen. Man kann es nicht anders sagen. Diese sechste und letzte Oper des polnisch-jüdisch-sowjetischen Komponisten Mieczyslaw Weinberg, die er 1987 schrieb, als der Zerfall der Sowjetunion sich bereits abzeichnete, ist immer noch weithin unbekannt. Sie trifft überraschend präzis den Nerv unserer an Irrationalismen so reichen „Zeitenwende“-Zeit.

Sie wirkt aber auch, dank ihrer musikalischen Faktur, betörend schön und erschütternd wahr. Komponiert auf der Höhe des Weinbergschen Personalstils, besticht sie mit der Abfolge kurzer Tableaus, dem lakonischen Parlando, der reichen Instrumentation, dem Geflecht malerischer Leitmotive, der an Alban Berg erinnernden Formklarheit und den bitteren Pointen, die aber nichts Ironisches an sich haben – wie es, zum Beispiel, der Fall ist bei einigen der Grotesken von Weinbergs Freund Dmitri Schostakowitsch. 

Dem Vergessen entrissen

Vielleicht ist das Libretto, das Alexander Medwedew verfasste, etwas zu lang. In den vier Akten von Weinbergs Musik zu „Der Idiot“ findet sich aber keine Note zu viel. Immerhin, es handelt sich um das abstract eines rund 1000 Seiten starken Dostojewski-Romans. Thomas Sanderling, Dirigent und Weinbergprophet der ersten Stunde, hatte sich längst vehement dafür eingesetzt, dass das Stück dem Vergessen entrissen und in voller Länge uraufgeführt werde.

Dies geschah im Jahr 2013 in Mannheim, Sanderling selbst dirigierte. Publikum und Kritik jubelten. Eine Schallplattenaufnahme entstand, die längst wieder wieder vergriffen ist. Aber nur einmal, in Oldenburg am Stadttheater, gab es eine Nach-Inszenierung. So bleiben tote Stücke selbstverständlich tot. Schande über die großen Opernhäuser, aber auch über die Musikfestivals, die sich damit begnügen, ihr Publikum nicht zu überfordern!

Jetzt holte Sanderling das Stück zum zweiten Mal zurück ins Leben. Er brachte es, gemeinsam mit dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien und dem Arnold Schoenberg Chor, zur österreichischen Erstaufführung, wozu das Theater an der Wien eine bis in die Nebenrollen durchweg fulminante Sängerbesetzung castete und mit Vasily Barkhatov einen angesagten Regie-Kollegen einlud.

Der erzählt die Geschichte des Fürsten Myschkin, der sich nach der Rückkehr aus dem Sanatorium wiederfindet in einer dekadenten, von Geld- und Sexgier regierten Gesellschaft, weitgehend linear. Das filmreif stilisierte Bühnenbild von Christian Schmidt und die Kostüme von Stefanie Seitz vertrömen zeitlose Märchenhaftigkeit. Die Lichtregie, die lautlos rotierende Drehbühne sorgen für sekundenschnelle Szenenwechsel.

Doch zugleich hüllt Barkhatov die Abenteuer dieses russischen Simplicius Simplicissimus in einen Kokon wechselnder Zeit-Loops. Nach dem Motto des alten Films „Und täglich grüsst das Murmeltier“ findet sich Myschkin nach fast jeder Episode wieder in dem nämlichen Zugabteil, in dem er aus der Zauberberg-Idylle der Schweiz nach Petersburg heimgekehrt war: Akt 1, erstes Bild. Das passt: Immer wieder scheitert das Gute am real existierenden Bösen. Das deuten auch kleine Irritationen an, in Bild und Ton, von Anfang an.

Boudoir der Begehrten

Als, zum Beispiel, im Smalltalk der Reisenden erstmals von der schönen Nastassja die Rede ist, die allen in Petersburg den Kopf verdreht und als ihr Leitmotiv auftaucht, im Orchester, da verwandelt sich auch die Winterlandschaft, die am Zugfenster vorbeifliegt, vorübergehend in ihr verpixeltes Porträt. Schon vorbei. Der Waggon dreht sich, verschwindet im Hintergrund, vorne an der Rampe drehen sich drei Möbel herein: Lampenschirm, Sofa, Klavier. Fertig ist das Boudoir der Begehrten.

Myschkin selbst stellt sich zwar wiederholt als Reisender vor, er sagt: „Ich komme aus der Schweiz.“ Nie aber nennt er sich selbst einen Idioten. Nur die anderen erkennen in ihm den Auserwählten, den Wahrheitssucher, Trottel oder den Heiligen, zu gut für diese Welt. Nastassja, die Edelhure, bringt es auf den Punkt: „Du bist der erste Mensch, an den ich glaube“. Rogoschin, der spiel- und trunksüchtige Kaufmann, nennt ihn einen „Gottesnarren“. Er schließt mit Myschkin Brüderschaft, versucht aber auch, ihn zu ermorden.

Glocken sind zu hören in dieser ersten Szene des dritten Aktes, der von der Regie vor die Pause verlagert wird. Sie tönen wie Polizeisirenen, choralmilde Streicherchöre kommen dazu, ein düsteres Tremolo baut sich auf, dann schlägt die Pauke drein, Myschkin schreit. Im Libretto steht: Er fällt in Ohnmacht. Hier indes fällt nur etwas Licht auf ihn und auf die letzte Bank des Zugabteils, wo, schon seit dem ersten Akt, jemand herumliegt, zugedeckt mit einem Mantel, schlafend oder vielmehr tot: So wird dieser Loop zur Vorahnung des gewaltsamen Todes von Nastassja.

Beide, Rogoschin und Nastassja, sind so etwas wie die Schlüssel zur Handlung. Dmitry Cheblykov liefert mit seinem imposanten Bariton ein differenziertes Rollenporträt. Ekaterina Sannikova verleiht ihren Auftritten innige Lyrik, aber großes Divenformat. Hervorzuheben ist auch Dmitri Golovin als Fürst Myschkin: ein wandlungsfähiger Tenor mit klarer Trompetenhöhe.

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