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Auf dem Weg in die linke Deinstitutionalisierung. Pablo Iglesias, Vorsitzender der spanischen Protestpartei Podemos 2015.

© imago/Agencia EFE/imago stock&people

Erregung ohne Folgen: Anton Jäger untersucht das Zeitalter der Hyperpolitik

Der Historiker geht auf Abstand zum derzeitigen Cocktail aus Euphorie, Konsumismus und Apathie.

Wie bei einem Schiff, dessen Ladung bei stürmischer See ins Rutschen kommt, so könnte man sich die momentane Lage vorstellen, wenn man einer Metapher vertraut, mit der Anton Jäger die Ära der „Hyperpolitik“ kennzeichnet. Der belgische Ideenhistoriker bildet sie in Analogie zu Peter Sloterdijks maritimen Metaphern nach einem realen Vorbild: dem Untergang der Pamir im September 1957.

Die Viermastbark war auf dem Weg von Buenos Aires nach Hamburg mit 4000 Tonnen Gerste an Bord in einen Hurrikan geraten. Aus Zeitgründen hatte man die Gerste nicht in Säcke verstaut, schildert Jäger, sondern lose an Bord gebracht. Ähnliches geschehe mit den atomisierten Individuen der Gegenwart, wenn sie in politische Erregung geraten.

Anton Jägers Begriff der „Hyperpolitik“, den Sloterdijk bereits Anfang der 1990er Jahre mit etwas anderer Akzentuierung verwendete, zielt auf eine spezielle Form der Politik beziehungsweise der Politisierung. „Extreme Politisierung ohne politische Folgen“ lautet der Untertitel des Essays, in dem es weniger um Politiker geht als um das politische Engagement der Bürger.

Die Phase der Hyperpolitik lässt Anton Jäger, Jahrgang 1994, ungefähr 2016, also in der Trump-Brexit-Konstellation beginnen, wohl wissend, dass sich solche Phänomene nicht einfach schematisieren lassen und dass es immer riskant ist, als Historiker der Zeit den Puls zu fühlen, in der man selber lebt. Es ist eine Diagnose ohne Abstand, aber mit gutem Gespür.

Charakteristisch für die Ära der „Hyperpolitik“ ist das hohe, durch die Rückkopplungsschleifen der sozialen Medien befeuerte Erregungspotential bei gleichzeitiger Deinstitutionalisierung. Sie lässt sich von drei früheren Phasen unterscheiden: von der Ära der „Massenpolitik“, wie sie für die Industriegesellschaften des 20. Jahrhunderts typisch war, in denen Gewerkschaften, Parteien oder Vereine den Protest organisierten; von der „Postpolitik“ der „langen Neunziger“, als man sich darauf verlassen wollte, dass die Politik nach dem Ende des Kalten Krieges schon gut genug funktionierte, um sich einigermaßen gefahrlos einem „Cocktail aus Euphorie, Konsumismus und Apathie“ hinzugeben.

Die Protestbewegungen, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Folge der Finanzkrise 2008 und der Eurokrise 2010 entstanden, nennt Jäger „Antipolitik“, mit einem Schlagwort, das er anders auffasst als etwa der ungarische Schriftsteller György Konrád oder der 1989 zum Staatspräsidenten der Tschechoslowakei gewählte Schriftsteller Václav Havel in den 1980er Jahren, wenn sie die Sphäre des Privaten vor dem Zugriff des sozialistischen Staates schützen wollten.

„Antipolitik“ in Jägers Sinn ist eine gegen die offizielle Politik gerichtete Gegenbewegung, wie sie etwa Occupy Wall Street und die eher rechte Tea-Party-Bewegung vertrat. „Antipolitik war eine Politik gegen eine Politik, die keine war.“ Das gelte auch für die Aufstände und Massenproteste in Nordafrika und dem Nahen Osten ab Dezember 2010 und die Besetzung des Istanbuler Gezi-Parks im Mai 2013.

„Bowling Alone“, die viel diskutierte Studie des Politikwissenschaftlers Robert Putnam aus dem Jahr 2000, bildet die Hintergrundfolie der Argumentation. Dabei übernimmt er die Idee, dass Institutionen, die zivilgesellschaftliches Engagement bisher bündelten, im Schwinden begriffen sind: von der Kirche über Gewerkschaften und Parteien bis hin zu Vereinen. Damit schwinde auch die Verbindlichkeit gemeinsamen Engagements.

Die Hemmschwelle beispielsweise eine Facebook-Gruppe zu verlassen, ist niedrig, anders als beim Austritt aus der Kirche, aus einer Partei oder selbst noch aus einem Verein. Die Entwicklung der europäischen Protestparteien, von Podemos über Syriza bis hin zu Movimento 5 Stelle zeichnet Jäger detailliert nach, um schließlich zu erwägen, ob die allgemeine Deinstitutionalisierung die Linke nicht womöglich stärker trifft als die Rechte. Mit dem britischen Politologen R.W. Johnson spricht er von einem „asymmetrischen Verfall des Klassengegensatzes“.

„Heute gilt: Alles ist politisch“, zitiert er aus einem Interview mit Adam Tooze vom Juli 2023. Doch was nützt das, außer dass der „neoliberale Versuch einer Entpolitisierung der Wirtschaft gescheitert ist“, wie der britische Wirtschaftshistoriker versichert?

Anton Jäger beklagt „die weitgehende Folgenlosigkeit der linken Hyperpolitik“ und wählt als Beispiel die Proteste von Black Lives Matter, die zwar während der ersten Coronawellen Millionen auf die Straße gebracht haben, letzten Endes aber folgenlos geblieben seien. Noch immer gäbe es in den USA massive Polizeigewalt, insbesondere gegen Afroamerikaner, und die höchste Inhaftierungsrate weltweit. Doch wirkungslos waren sie deshalb noch lange nicht.

Die „Schockpolitisierung“, die nach 2008 einen Teil der OECD-Bürger ergriff, erreichte mit MeToo und BLM eine „Art Kipppunkt“. Hitzewellen und Umwelt-Katastrophen, Corona, Inflation, der russische Angriff auf die Ukraine – und mittlerweile auch der Angriff der Hamas auf Israel und seine Folgen – geschehen in einer Stimmung, die mit dem Ausdruck „virale Panik“ treffend gekennzeichnet ist. In den „kurzen Hype- und Empörungszyklen“ des beschleunigten Internetzeitalters erkennt Anton Jäger die Signatur der Hyperpolitik.

Es mag befremdlich oder vielleicht sogar ein bisschen treuherzig erscheinen, dass der in Cambridge promovierte und derzeit als Postdoctoral Research Fellow an der Katholieke Universiteit Leuven lehrende Historiker trotz seiner Analysen am Ende Lösungsansätze vorschlägt.

Neue Verbindlichkeiten erhofft er sich etwa von „Care-Tätigkeiten“, den Kita- und Schulbezügen als begleitende Eltern oder vom Engagement im Viertel und der Nachbarschaft. Auch die ökologische Transformation gehört seiner Meinung nach zu den „Kontexten, die der dauerhaften Mobilisierung zuträglicher sind“. Zyniker werden bestreiten, dass in der Ära der Hyperpolitik verbindliche Beziehungen überhaupt noch möglich sind. Versuchen sollte man es trotzdem, unbedingt.

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