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Der „Antikrist“, Rued Langgaards Apokalypse in strahlenden Farben.

© Thomas Aurin

Folge 181 „Wochniks Wochenende“: Was lange währt...

Erst durch einen Trick wurde er ein halbes Jahrhundert nach seiner Zeit entdeckt. Und erst heute, ein Jahrhundert später, ist er Repertoire.

Eine Kolumne von Thomas Wochnik

Mineralwasser und Gläser auf einem Tisch, daneben ein großer Stapel Partituren. Zwei Meister ihres Faches, der eine etwas jünger als der andere, der ältere dafür schon etwas berühmter: Györgi Ligeti. Der jüngere, der dänische Komponist Per Nørgård, beobachtet Ligeti dabei, wie er durch die Partituren blättert, eine nach der anderen, in stetigem Tempo.

Die Aufgabe der zwei: ein Werk auswählen, das beim Festival Nordiska Musikdagar (Nordische Musiktage) 1968 aufgeführt wird. Plötzlich verlangsamt sich Ligetis Blättertempo, Nørgård spricht von einem Ritardando, Ligeti hält inne, blättert zurück, bis zum Anfang, langsam wieder vor. Die Partitur in seiner Hand enthält Techniken, die Ligeti erst kürzlich selbst verwendet, sogar selbst entwickelt hatte. Wie er jetzt erkennt, war er nicht der einzige, und nicht nur das: Die Partitur in seiner Hand ist schon ein halbes Jahrhundert alt.

Dass er ein Epigon, ein Nachfolger also jenes ihm bis dahin unbekannten Meisters sei, verkündet Ligeti fortan. Rued Langgaard heißt der Komponist. Alles andere als überrascht von Ligetis Fund ist Nørgård, denn der hatte Langgards „Sphärenmusik“, die lange vor der Erfindung des Begriffs Clusterklänge enthielt, in einem günstigen Augenblick zwischen die anderen gesteckt. Und das, um zu sehen, wie Ligeti reagieren würde, wenn er seine eigenen Techniken bei einem anderen erkennen würde.

Dass Langgaard nicht Teil der Vorauswahl war, auch das lag an seinem kaum vorhandenen Bekanntheitsgrad. Zu Lebzeiten soll er immer wieder an die Kopenhagener Oper gegangen sein, um seinen Antikrist zu empfehlen, immer wurde er zurückgewiesen.

Als man das Libretto beanstandete, schrieb er es gefügig um. Trotzdem wurde der Antikrist erst 1999 in Innsbruck uraufgeführt, fast ein halbes Jahrhundert nach Langgards Tod. Wie es gewesen sein mag, als Künstler so abgelehnt zu werden, kann er sich nicht vorstellen, schreibt Ersan Mondtag, der Regisseur, der den Antikrist seit 2022 an der Deutschen Oper inszeniert. SO auch diesen Samstagabend.

Das Bühnenbild ist angelehnt an Christopher Nolans Blockbuster „Inception“, in dem sich die Raumzeit spektakulär faltet, bis das Hier und das Da verschwimmen, Jetzt und Dann sich abwechseln wie das Innen und Außen der menschlicen Körper auf der Bühne, deren Kostüme aus Anatomiebüchern zu stammen scheinen. Und bis Langgaards Antikrist nicht nur als saisonale Besonderheit auf die Bühne kommt, sondern als in jeder Hinsicht aus der Zeit gefallenes Repertoirestück, das man einfach gehört haben muss.

Hasenheide im Nebel

© Doris Spiekermann-Klaas TSP

Dass er mehr oder weniger in der Hasenheide aufgewachsen ist, erzählt Mondtag in der Infobroschüre der Deutschen Oper, was eine andere Erinnerung triggert: die vom Liegen auf der Wiese, bei Sonnenschein. Auch dazu hat Langgaard die passende Musik parat: sein großartiges, im Gegensatz zum Antikrist unkitschiges „Insectarium“ für Klavier solo. Kribbeln auf der Haut als Hörerfahrung – auch das also ein hundert Jahre alter Trick. Neben der Faltung der Raumzeit.

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