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Selbstbespiegelung. Seit den Sechzigern fotografierte Melis Schriftsteller und Künstler der DDR. Hier: Eva Maria Hagen.

© Roger Melis

Fotograf Roger Melis: Ostdeutscher Alltag von der Befreiung bis zur Einheit

Fotograf Roger Melis war ein Chronist des Lebens in der DDR. Die Berliner Reinbeckhallen zeigen nachgelassene Aufnahmen aus drei Jahrzehnten.

Was für eine Szene. Ein schickes, auf Hochglanz gewienertes Sportcabrio mit heruntergeklapptem Verdeck. Der Chauffeur steuert vorsichtig durch die mit Fahnen bewehrte Menschenmenge. Kinder strecken der alten Frau mit dem Kopftuch, die hinten im Auto steht, die Hände entgegen. Das ist Helene Weigel, die Bonbons verteilt. Bei der Mai-Demonstration 1970 auf dem Marx-Engels-Platz, der heute Lustgarten heißt. Kamellen für die Jungsozialisten gewissermaßen. Personenkult auf Ost-Berlinisch, die reinste Realsatire, selbstverständlich in der DDR nicht gedruckt.

Das Foto gehört zu denen, die Mathias Bertram aus dem Nachlass von Roger Melis geborgen hat. Allein in dieser mit „Demonstrationen“ beschrifteten Kiste, seien es 160 gewesen, erzählt der Archivar, der zugleich der Stiefsohn des wohl bedeutendsten DDR-Fotografen ist, beim Rundgang durch die weitläufige Halle. Dieselbe Anzahl von Bildern hat der Kurator auch für die Retrospektive „Die Ostdeutschen“ ausgewählt. Bertram und der Leipziger Verleger Mark Lehmstedt haben 2007 mit dem Bildband „In einem stillen Land“ Melis’ seither auch international stetig wachsenden Ruhm begründet. 2010 ergänzte eine Ausstellung des „Meisters des ostdeutschen Fotorealismus“ bei C/O Berlin die Werkschau-Bände. Nun folgt eine Ausstellung, die abgesehen von einigen Klassikern bisher unbekannte Fotos des 2009 verstorbenen Berliner Fotografen zeigt und vom gleichnamigen Bildband flankiert wird.

Jubel? Fehlanzeige. Szene am Rand der Parade zum „Tag der Befreiung“ am 8. Mai 1965 in Mitte. Seinerzeit wurde die Serie nicht veröffentlicht.
Jubel? Fehlanzeige. Szene am Rand der Parade zum „Tag der Befreiung“ am 8. Mai 1965 in Mitte. Seinerzeit wurde die Serie nicht veröffentlicht.

© Roger Melis

„Die Ostdeutschen“ ist eine Bezeichnung, die eigentlich zu apodiktisch für einen so diskreten Alltagschronisten und Porträtisten klingt. Auch wenn der Titel selbstbewusst an legendäre Vorbilder wie Robert Franks Fotobuch „Die Amerikaner“ (1958) und René Burris Ost- West-Reportage-Bildband „Die Deutschen“ (1962) anknüpfen will. Wer soll das schließlich sein die Ostdeutschen? Und können ausgewählte Fotos, wenn auch aus drei Jahrzehnten, sie überhaupt repräsentieren? Mathias Bertram lächelt. Die Irritation ist beabsichtigt. Ostdeutsche seien zum beliebten Feuilletonthema geworden, sagt er. „Man versucht, ihnen eine kollektive Identität anzudichten, die es nie gegeben hat. Die Ausstellung beweist hoffentlich das Gegenteil.“ Was habe die Arbeiterin aus dem Vogtland schließlich mit dem Stasi-Offizier aus Berlin gemein gehabt?

Zumindest das Leben in einem – in seinen verschlafenen Kleinstadtszenen und den pittoresken Berliner Bröckelfassaden – wie aus der Zeit gefallenen Land, möchte man angesichts der zwölf Reportagen und neun Porträtserien von Roger Melis sagen, die in der Ausstellung zusammenfließen. Die chronologische Klammer bilden der „Tag der Befreiung“, also die Parade von Roter Armee und NVA zum 20. Jahrestags des Kriegsendes am 8. Mai 1965, und der „Tag der deutschen Einheit“ am 3. Oktober 1990 vor dem Brandenburger Tor.

Der „Befreiungstag“ ist die erste Serie, die der 1940 geborene Melis, der sein Brot zuerst als wissenschaftlicher Fotograf an der Charité verdient, ohne Auftrag in der DDR eingefangen hat. Sie beeindruckt durch die beiläufig beobachteten und trotzdem elegant komponierten Szenen am Straßenrand, die die offizielle propagandistische Bildsprache geschickt konterkarieren. Am „Einheitstag“ wiederum besticht, dass der Dokumentarist dem Jubel und den Zweifeln der Neu-Bundesbürger gleichermaßen Raum gibt. Man muss zweimal hinschauen, um den kleinen Trauerflor zu entdecken, den der junge Mann mit der durchgestrichenen DDR-Flagge am Fahnenstiel trägt.

Roger Melis selbst hadert mit der DDR, glaubt aber trotzdem an einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz, sagt der Stiefsohn, und engagiert sich im Verband Bildender Künstler für die Anerkennung der Fotografie. Im Westen machen ihn die ab 1962 angefertigten Porträts von Schriftstellern und Künstlern bekannt. Bald drucken auch hier viele Zeitungen und Verlage seine Fotos. In der DDR bringt ihm dagegen eine Zusammenarbeit mit dem „Staatsfeind“ Erich Loest für das Magazin „Geo“ von 1983 bis 1989 eine Presse-Auftragssperre ein.

Mit Künstler- und Schriftsteller-Porträts wurde er bekannt

Das schicke, 1965 entstandene Porträt der Schauspielerin und Sängerin Eva-Maria Hagen, die sich fragenden Blicks im Spiegel betrachtet, gehört zu Mathias Bertrams Lieblingsfundstücken. „Weil es die Frage nach der Identität stellt.“ Gleich daneben prangt Tochter Nina Hagen, die im Jahr 1970 kurzhaarig und noch gänzlich unbeschriebenen Gesichts ernst neben die Kamera schaut. Eine ähnliche Mischung aus Intimität und Diskretion weist auch das Porträt der Schriftstellerin Monika Maron auf, die 1977 mit ihrem nackten Sohn im Schoß rauchend auf dem Bett sitzt.

Was bringt die Zukunft? Tag der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 in Berlin.
Was bringt die Zukunft? Tag der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 in Berlin.

© Roger Melis

Kindern und Jugendlichen samt ihrem Ringen um Menschwerdung gehört Melis’ besondere Sympathie. Das Kapitel „Rummelplatz“ zeigt quarzende Berliner Teenies des Jahres 1969, die Strassschmuck und Lederjacken tragen und sich lieber an westlicher Popkultur als am offiziellen Idealbild der freien deutschen Jugend orientieren. Ähnliches gilt auch für die zwei ungemein lässigen Maurer, die aus den respektvollen Porträts von Berufstätigen jeder Couleur herausstechen. Hinge Manfred Krug nicht als porträtierter Künstler an der Wand gegenüber, glaubte man in ihnen Mitglieder seiner Handwerker-Brigade Balla aus „Spur der Steine“ zu erkennen, so viel Grandezza strahlen sie aus. Diesmal allerdings im Langhaar-Look der Siebziger.

Die „Wahrheit des Unsensationellen“, die Roger Melis’ oft zitiertes fotografisches Credo ist, bringt immer wieder spektakuläre Alltagsmomente wie diesen hervor. Im vielgestaltigen, kulturell keinesfalls gleichgeschalteten Kosmos der versunkenen DDR.

Reinbeckhallen, Reinbeckstr. 17, Oberschöneweide, bis 28. Juli, Do/Fr 16 - 20 Uhr, Sa/So und feiertags 11 - 20 Uhr

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