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David Graeber

© Mike Wolff

Anfänge der Zivilisation: Freiheit und Risiko

David Graeber und David Wengrow entwarfen eine neue Menschheitsgeschichte. Jetzt diskutierten Experten in Berlin ihre Thesen.

David Wengrow stand allein auf dem Podium des Hauses der Kulturen der Welt. Eine ganze Konferenz zu einem Buch! Am 6. August 2020 hatten er und David Graeber „Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit“ beendet. Knapp 600 Seiten. Entstehungszeit: 10 Jahre. Nicht einmal einen Monat später starb der Anthropologie-Professor, Anarchist und Occupy-Wallstreet-Aktivist Graeber. Und nun trifft der überwältigende Erfolg des Buches mit dem nicht ganz unbescheidenen Titel den Verwaisten allein.

Mag sein, viele der Weggefährten im Saal sahen den Fehlenden dennoch hinter Wengrow, neben ihm oder vor ihm. Wie es in den Anfängen der Menschheit war: „Tot“ ist keine Kategorie. Die Geister der Verstorbenen sind immer um uns, in uns. Hinter Wengrow, an der großen Leinwand des Auditoriums das zentrale Sofa-Bild von Graebers Wohnzimmer: Ein Spatz im Betonrahmen, in sehr patriarchaler Pose, auf einem sehr patriarchalen Ast, hinter ihm in einem kleinen Loch zwei noch kleinere weit offene Schnäbel, die Spätzin ist gar nicht erst da, und unter all dem steht in großen Lettern „Home“.

Vorgeschichte als Sozialgeschichte

Also alles, was Graeber vermutlich verabscheute. Und sein Ko-Autor auch, der hier mit der im schönsten Sinne „zivilisierten“ mittleren Tonlage der Unverdächtigkeit noch einmal darlegte, wie das alles anfing mit den „Anfängen“. Sollte sich in den archäologischen Funden der letzten dreißig Jahre nicht eine ganz neue Geschichte der Menschheit verbergen? Oder wie es die Paläontologin Claudine Cohen nachher formulierte: „Vorgeschichte ist nicht Naturgeschichte, sondern Sozialgeschichte.“

Geschichte und Herrschaft, glauben wir, sind eins. Und wir glauben noch mehr: Das Haus der Kulturen der Welt hat seine Konferenz nicht zufällig „Die Zivilisationsfrage“ genannt. Zivilisation und Unterwerfung sind auch eins. Das Wort Zivilisation kommt von civis: römischer Bürger, Städter. „Zivilisation“, setzen wir voraus, meint eine Gesellschaft, die auf wissenschaftlichem und technischem Fortschritt beruht – und an den Fortschritt glaubt, den sie selbst verkörpert. Das alles hinderte den Vortragenden Erhard Schüttpelz nicht daran, Lewis Mumford zu zitieren: Für Mumford sind Zivilisationen „Mega-Maschinen“ mit ihrer charakteristischen „Fusion von Geometrie und Sklaverei“.

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Ihr seid ja Sklaven!, war die Beobachtung der Indigenen, die seit dem 16. Jahrhundert nach Europa kamen, um anzuschauen und angeschaut zu werden. Wengrow und Graeber gingen so weit, die ganze europäische Aufklärung als Wirkung der „indigenen Kritik“ darzustellen. Das verstimmte schon beim Lesen, Robbie Richardson von der Princeton University zeigte nun, dass die amerikanische Wendat-Sprachen die Idee individueller Freiheit gar nicht hätten formulieren können. Das ändert nichts daran, dass die amerikanischen Ureinwohner und die intellektuelle Avantgarde Europas natürliche Verbündete waren, Richardson erinnerte an Montaignes Parteinahme für die brasilianischen „Kannibalen“ vom Volk der Tupi bereits im 16. Jahrhundert.

Tupi or not Tupi?

Graeber und Wengrow hatten drei Grundfreiheiten des Menschen postuliert wurden: die Freiheit, seinen Herkunftsort zu verlassen, die Freiheit, nicht zu gehorchen und die Freiheit, über seine Lebensform selbst (mit) zu entscheiden. Alle drei wurden von den indigenen Gesellschaften Amerikas oft gewährt. Mit einer Einschränkung, auf die der Universal- und Medienwissenschaftler Erhard Schüttpelz aufmerksam machte, wiederum mit Blick auf die Tupi: Wer als Menschenopfer auserwählt ist, befindet sich plötzlich jenseits der drei Grundfreiheiten. Schüttpelz: „Tupi or not Tupi? That is the question.“ Ein Risiko magischer Gesellschaften, das Graeber und Wengrow im Buch nie thematisierten.

Das Hauptverdienst von „Anfänge“ liegt darin, die Standarderzählung widerlegt zu haben, wonach auf primitive, kleine, egalitäre Jäger- und Sammlergruppen komplexere Ackerbau betreibende Gesellschaften folgen mitsamt Patriarchat, Ungleichheit, Zentralismus und Herrschaft: Zivilisation, endlich!

[Alle Hauptvorträge der Konferenz sind online nachzuhören: https://www.hkw.de/de/programm/projekte/veranstaltung/p_188723.php]]

Die Anthropologin Alpa Shah, Weggefährtin von Graeber und Wengrow, sagte: „Wir werden über Geschichte nie mehr in der gleichen Weise nachdenken wie vorher.“ Denn die Anfänge der Urbanität reichen viel weiter zurück als die des Königtums. Gleich zwei Vorträge widmeten sich den ältesten Großsiedlungen Europas Nebelivka und Maidanetske, entstanden vor 6000 Jahren in der heutigen Ukraine. Bis zu 15 000 Menschen lebten hier zusammen: ohne erkennbare gesellschaftliche Hierarchien, aber mit avancierten Techniken und wohl mit einer exponierten Stellung der Frau.

Für Christina von Braun ist die Gender-Perspektive bei Graeber und Wengrow durchaus unterreflektiert, dabei hätte sie doch gerade bei diesem Unternehmen die Zentralperspektive sein können. Von Braun erklärte die Entstehung des Patriarchats aus der historischen Unmöglichkeit, die biologische Vaterschaft festzustellen, was zu der Kompensationsbehauptung einer gleichsam spirituellen Welt-Vaterschaft führte. Doch zuvor definierte sie uns als Vertrauens-Tiere: Vertrauen haben zu können, war die Voraussetzung unseres Überlebens als Gattung. Insofern wäre der Zivilisationsprozess nichts als die beständige Umformung, Umbiegung, auch Pervertierung dieses basalen Verhältnisses?

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