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Doppelter Fontane. In Neuruppin ist der Dichter als Bronzefigur und als Ampelmännchen zu sehen.

© Nestor Bachmann/dpa

Anhalter Bahnhof: Heiliger Fontane, hilf!

Nicht jeder Berliner ist verliebt in die sich verändernde Stadt, wie sich bei einem Gespräch am Stechlinsee herausstellt. Da kann nur ein weiser Märker helfen.

Was ein wahrer gebürtiger Berliner ist, der weiß alles ganz genau. „Die Elite ist raus“, konstatiert der Herr und meint damit sich. „Ich bin vor 45 Jahren aus Berlin weggezogen und habe es keinen Tag bereut.“ Zu seinem Leidwesen müsse er aber regelmäßig wieder hin. „Voll, laut, absolut furchtbar dort.“ Gerade habe er wieder gelesen, dass sich hundert Leute auf der Straße eine Massenkeilerei geliefert hätten. „Typisch Reichs-Kloake, sage ich immer.“ Und das Lankwitz seiner Jugendtage sei ja auch nicht mehr wiederzuerkennen. „Überall wird kleinteilig zugebaut, wahlweise verdichtet oder zersiedelt, unerträglich, der reinste Betonfaschismus!“ Da lobe er sich doch das Dorf in Schleswig-Holstein, wo er inzwischen residiere. Grün sei es dort und friedlich.

Das war es vor der Brandrede des Ex- Berliners auch in Neuglobsow am Stechlinsee. Im „Fontanehaus“, wo der landauf, landab gefeierte Dichter womöglich früher selbst die heute nach ihm benannte Roulade schmauste, sind die Tische an diesem Frühlingsabend dicht besetzt. 1995, beim ersten Besuch, war dies die einzige Schenke mit Abendbetrieb, 2019 ist sie es immer noch. Der Brandenburger neigt nicht zu leichtfertigen Neueröffnungen. Fontane-Jubeljahr hin oder her.

Lüneburger Heide? Das ist doch eine anständige Gegend!

Der Ex-Berliner, der mit seiner freundlich lächelnden und fein stilleschweigenden Ehefrau den verzweifelt Suchenden Sitzplätze an seinem Tisch anbot, kommt schon seit 20 Jahren her. Angeblich der Naturschönheiten wegen. Viel wahrscheinlicher, um den schon seit hundert Jahren in Neuglobsow häufig anzutreffenden Sommerfrischlern aus Berlin ihre Stadt zu verleiden. Selbsthass hat viele Gesichter. Der Anti-Berliner mit Berliner Akzent und polterndem Habitus ist einer davon. „Lüneburger Heide?“, kommentiert der Verwaltungsjurist die soeben erfragte Geburtsregion des Gegenübers, „da kommen Sie doch aus einer anständigen Gegend, was in aller Welt wollen Sie in Berlin? Da ist die Elite raus!“ Das wissen sämtliche umsitzenden Herrschaften doch nun schon.

„Aber im Alter bleiben Sie doch da nicht?“, dröhnt der Missionar des Missvergnügens weiter. So langsam wird seine Passion pathologisch. Überm Stechlin flammt dramatisches Abendrot. Ein Zeichen. Heiliger Theodor Fontane, hilf! Der Wahl-Berliner aus der Mark war in Sachen Weltoffenheit vor 200 Jahren schon deutlich weiter. Wie heißt es im Roman „Der Stechlin“? „Alles Alte, soweit es Anspruch darauf hat, sollen wir lieben, aber für das Neue sollen wir recht eigentlich leben.“ Nimm das, Ex-Berliner!

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