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Ein Schablonengraffitto von Gandhi, 2015. Text: Vergewaltigt? Gebäre! Gott wird schon helfen!

© Gandhi

Hingehen: Austellung "Post-Soviet Cassandras": Kirchgang zum Körnerpark

So leicht gerät man sonntags von Neukölln über Russland nach Moabit. Genauer gesagt in die Ausstellung "Post-Soviet Cassandras", die zeitgenössische politische Kunst aus Russland zeigt.

Ich bin Kirchgängerin. Im Wortsinn. Immer wenn es mich sonntags in den Gottesdienst zieht, gehe ich zu Fuß, kontemplatives Wandern durch die Antiidylle, Dreiviertelstunde hin, Dreiviertelstunde zurück. Das heißt, retour dauert länger. Da fehlt der stramm-sportive, zielgerichtete Alltagsschritt. Da ist es, von Sünden befreit und geistlich aufgerüstet, Zeit, den Kopf zu heben und die Gegend sonntagsmüßig in Augenschein zu nehmen.

Die auf den Bürgersteigen im wracken Teil Neuköllns abgestellten zerschlissenen Polstermöbel. Das Nierenzentrum im Rollbergviertel, die Baustelle Kindl-Brauerei, den Körnerpark. In diesem neobarocken Juwel, das ob seiner Gepflegtheit von heilsam zivilisatorischer Wirkung auf die vermüllte Umgebung ist, haben irgendwelche Spacken die Rasenfläche im Winter mit einem großen Anarcho-A und dem Zusatz „für Alle“ verschimpfiert. Gott sei Dank grünt dieses Sakrileg jetzt langsam wieder zu. Vor dem Café in der ehemaligen Orangerie hocken Frühstücker in der Frühlingssonne. Und auf einem Aufsteller ist die Ausstellung "Post-Soviet Cassandras"(bis 12. Juli, Di-So 10-20 Uhr) plakatiert. Wem die Stunde schlägt! Jetzt schließt sich die Bildungslücke, die Galerie im Körnerpark nie besucht zu haben.

Textilbanner, Schablonen-Graffiti und stilistisch im Stil einer Graphic Novel verfertigte Zeichnungen dominieren den unter hohen Fenster- und Deckenbögen atmenden Raum. Die „postsowjetischen Kassandras“ – das sind eine Gruppe politischer Künstlerinnen und Künstler aus Russland, der Ukraine und Belarus. Ihre farbenfrohen, beißend regimekritischen Arbeiten, die sich für Frauen- und Homosexuellenrechte einsetzen, können in Russland nicht gezeigt werden. Eine von ihnen – Marina Naprushkina – lebt zurzeit in Berlin. Sie gründete eine Flüchtlingsinitiative in Moabit und gibt Kunstkurse in Heimen. Irre, wie einen der Kirchgang zu einem (vor-)bildlichen Akt gelebter Nächstenliebe treibt.

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