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Schuhe aus und rein in die Moschee – das haben manche schon mal gemacht. Viel mehr aber auch nicht.

© picture alliance / dpa

Integration ist nur ein Wort: Was hatte ich je mit Muslimen zu tun?

Von Integration zu reden ist leicht. Der Alltag ist anders, ob im Kindergarten, beim Fußball oder im Studentenwohnheim. Johannes Schneider mit prototypischen Erinnerungen.

Die erste Urszene. Im Kindergarten, östliches Ruhrgebiet, letztes Jahr der 80er oder erstes der 90er: Wir sind zwischen vier und sechs Jahre alt, es ist Sport- und Bewegungsstunde. Die Kindergärtnerin leitet eines der üblichen Fangenspiele an. Die Gruppe der Zu-Fangenden schreitet durch den Raum auf die Gruppe der Fänger zu und spricht dabei einen Reim. Ist das letzte Wort verklungen, stoßen sich die Fänger von der Wand ab und die Zu-Fangenden fliehen vor ihnen zurück zur rettenden „eigenen“ Wand. Wer abgeschlagen wird, wechselt das Team, bis nur noch einer übrig ist. Der Reim: „Wir kommen aus dem Morgenland. Das Morgenland ist abgebrannt. Wir sehen aus wie Mohren, ha’m soooolche langen Ohren!“ Untermalt mit einer entsprechenden Geste. Irgendein Kind fragt irgendwann: „Was ist eigentlich ein Mohr?“ Die Kindergärtnerin antwortet: „Na, so jemand wie Mohamed halt.“

Mohamed tat in diesem Moment, was er immer tat, auch wenn zum Beispiel erläutert wurde, warum er kein Türchen am Adventskalender aufmachen dürfe, weil: „Der glaubt ja gar nicht an das Jesus-Kind.“ Er schaute aus großen dunklen Augen in die Runde, für mehr reichte sein Deutsch auch nicht. Irgendwas muss mir daran schon damals so schräg vorgekommen sein, dass ich mich bis heute erinnere. Woran ich mich allerdings auch erinnere: Diese Szene führte nicht dazu, dass meine biodeutschen Kindergartenfreunde und ich dadurch Nähe zu den meist marokkanischen Einwandererkindern entwickelten, die ebenfalls unseren Kindergarten besuchten. In unserer Gruppe war das nur Mohamed. In der Nachbargruppe aber waren es gleich fünf Jungs um den dicken Zuhair, den die Kindergärtnerinnen trotz andauernder Proteste („Ich heiße Ssuheirr!“) nur „Zuher“ nannten. Wir nannten sie nur „die Marokks“ und prügelten uns mit ihnen. Zumindest so lange, bis wir einsahen, dass wir immer verloren.

In Neukölln bin ich ganz dicht dran

Man redet viel über die Rolle von Einwandererfamilien aus muslimisch geprägten Ländern und die Rolle des Islams in unserer Gesellschaft. Auch ich tue das, und ich vertrete linke Positionen: Refugees welcome! Keine Vorverurteilung ganzer religiöser Gruppen. Die meisten Probleme mit Migrationsfolgen sind zuerst soziale Probleme dieser Gesellschaft. Einwände, ich hätte ja als weißer Mann und erwachsener Akademiker wenig Berührungspunkte mit den Schattenseiten der Einwanderung von Machokultur und moralischer Rigidität, tue ich mit dem Verweis auf meinen Wohnort ab. Der Bezirk Neukölln hat mich eins gelehrt: Je dichter man rangeht, umso detailreicher wird ein Bild.

Und doch bin ich zuletzt unsicher geworden. Unsicher, was meine reflexhafte Abwehrhaltung angeht, wenn begangenes Unrecht in einen Zusammenhang mit religiös-kultureller Identität gestellt wird. Woher kommt diese Angst, mit jeder Anerkenntnis von Differenz, sobald sie Herkunft, Kultur und Religion betrifft, Rassismus zu befördern? Von Menschen, die sich sonst jedes Detail eines Menschen ansehen und in Zusammenhang bringen mit dem, was er tut? Meine linken Freundinnen und Freunde würden nun sagen: weil genau das, das Erstellen dieses Zusammenhangs, Rassismus ist.

Die zweite Urszene. In der Mannschaftskabine, östliches Ruhrgebiet, ich bin 13 oder 14. Zuhair und seine Jungs haben mein Leben zwischenzeitlich verlassen, andere Wohngegenden, andere Schulen. Jetzt sind sie aber wieder da, beim Fußball. Wir verstehen uns gut, einmal hauen mich die „Marokks“ sogar raus, als ich von einem Mitspieler namens Bierende (Sic!) schikaniert werde. Als ich das einzige Tor meiner Vereinskarriere mache, das auch noch zum einzigen Punktgewinn unserer Mannschaft in dieser Saison führt, ist Zuhair der Erste, der jubelnd auf mir liegt. Aua!

"Hurensohn!" Der Fluch geht hin und her

Aber dann kommt der Abend, wo nur noch Malik und ich in der Kabine sind, und hinterher vermisst Malik sein Portemonnaie, und ab dem nächsten Training bin ich für meine marokkanischen Mitspieler nur noch ein „Dieb“ und „Hurensohn“, und dass ich sage „Sehe ICH so aus, als hätte ich es nötig, DICH zu beklauen?“, macht es auch nicht besser. Irgendwann kommt es auch zu folgendem Dialog:

„Na, du Hurensohn!“

„Selber Hurensohn!“

„HAST DU GRAD MEINE MUTTER BELEIDIGT, DU JUDE???“

Es ist unter anderem diese Szene, die es mir tief drinnen unmöglich macht, eine bestimmte Form des Mir-fremd-Seins und eine bestimmte Klangfarbe von Sexismus komplett voneinander zu trennen. Das Ding ist nämlich: Malik fand sein eigenes Verhalten, auch als wir uns alle wieder beruhigt hatten und klärende Gespräche mit dem Trainer führten, nicht im Mindesten schräg. Er fand es völlig normal, so an die Decke zu gehen, nur weil ich ihn beleidigt hatte wie er mich. Er hielt es für konsensfähig, auch unter uns beiden, dass seine Mutter mehr Ehre hatte als meine.

Nun war Malik Malik, ein Hauptschüler aus einem Dortmunder Hochhaus. Ich weiß nicht, was er zuvor für Diskriminierungserfahrungen gemacht hat. Sein schnauzbärtiger Vater rief nach der Sache mit dem Portemonnaie noch bei uns zu Hause an, konnte sich aber niemandem aus der Familie wirklich verständlich machen. Schließlich gab er auf, die Sache verlief, bis auf die Verbalinjurien, im Sande. Ich weiß nur, dass ich noch lange danach einfach froh war, wenn ich nix mit den Einwandererkindern meines Vororts zu tun hatte. Auch, als ich schon linke Badges am Army-Rucksack trug und gegen Nazis demonstrierte.

Im Zimmer einer Muslima auf dem Flokati übernachten, darf man das?

Die dritte Urszene. Bei einem Auslandstreffen der Studienstiftung des deutschen Volkes, Berkeley, USA, 2007. Ich bin aus St. Louis mit einer Kommilitonin angereist. Sie hat ein Quartier im Apartment einer befreundeten Mit-Stipendiatin, einer deutschen Muslima mit Migrationshintergrund, die hier ihren Ph.D. macht. Dass ich dort auch übernachte, geht nicht, aus religiösen Gründen. Ich fahre vom Flughafen trotzdem erst mal mit dorthin, das ist kein Problem.

Das Treffen ist dann sehr nett. Die Gastgeberin trägt Kopftuch und spricht wie die im Rheinland lebenden Schwestern meiner Mutter, mit hart anstoßendem „r“ vor Konsonanten, sie sagt eher „Wachte“ als „Warte“. Ich frage recht bald: „Kommst du aus Aachen?“ Sie sagt: „Ja. Wow!“ Der Rest des Nachmittags ist ein Selbstläufer. Schon denke ich, dass das mit dem Schlafplatz vielleicht doch noch was wird, mir reicht ja auch der flauschige Wohnzimmerteppich. Ich habe zwar noch ein loses Übernachtungs-Arrangement mit einem anderen Mit-Stipendiaten, der irgendwo oben in den Berkeley Hills wohnt, aber der Weg ist weit, und es fahren keine Busse, und das weiß auch meine neue Freundin, die jetzt anfängt, mir auf einer Karte den Weg von ihr nach dort einzuzeichnen, und da weiß ich, dass ich gehen soll. Unter viel „Sorry, ich weiß, was du denkst, aber es geht wirklich nicht“ bringt sie mich zur Tür.

Ich verlaufe mich dann trotz Kartenmaterials heftig – nach Monaten im Schachbrettland USA ist man eine Gegend voll gewundener Straßen einfach nicht gewohnt, und während ich so schwitzend mit meinem Rucksack durch Suburbia latsche, beginne ich, laut auf diese „scheißverklemmte Scheiß-Religion mit ihren Scheiß-Dogmen“ zu schimpfen. Da bin ich 22 – und habe grad keinen Sinn dafür, dass mir das auch mit einer strenggläubigen Christin hätte passieren können.

Performative Fremdheit, Missverständnisse, Diskriminierungen

Wollte man sich nun für komplett farben-, religions- und kulturblind erklären, müsste man sagen: Diese Urszenen verbindet eigentlich nichts. Die hoch gebildete Mit-Stipendiatin hat mit mir mehr zu tun als das ungebildete, aber hochfahrende Hochhauskind mit ihr. Wobei das jetzt auch schon wieder falsch ist, weil zwar nicht rassistisch, aber klassistisch: Vielleicht wäre Malik ja auch im Reihenhaus ein Hitzkopf geworden.

Es gibt aber doch etwas, was sie verbindet: Es sind Szenen der performativen Fremdheit, der Missverständnisse und Diskriminierungen. Von beiden Seiten! Und es sind Szenen, die mich nie sonderlich ermutigt haben, mir noch mehr von ihnen aufzubürden. Meine muslimischen Freundinnen und Freunde zähle ich bis heute an einer Hand. Und immer gibt es irgendwelche Missverständnisse, auch heute noch, im schönen Multikulti-Neukölln. Die türkische Nachbarin will keinen Kuchen. „Ist das jetzt nicht – äh – halal?“ Augenrollen. „Nein ich habe einfach eine Gluten-Unverträglichkeit.“

Ist das individuelles Versagen? Wohl kaum! Laut einer „Sonderauswertung Islam“, die die Bertelsmann-Stiftung Anfang 2015 ihrem Religionsmonitor entnahm, gaben 63 von 100 in Deutschland lebenden Nicht-Muslimen an, überhaupt keine Freizeit mit Muslimen zu verbringen. Hier weist die Frage nach der Religion auf ein größeres Problem: Parallelgesellschaft, hüben wie drüben. Zur Abschottung gehören immer zwei.

Wenn dann etwas schiefläuft, mehr oder weniger gewaltig, ist es völlig utopisch, diese Differenz in der Verarbeitung der Ereignisse aussparen zu wollen. Beziehungsweise führt es mit zu dem, was nun nach der Kölner Silvesternacht passiert – dass ein immer größerer Teil Menschen sich immer offener seinen rassistischen Reflexen hingibt, weil: Man wird ja von den gutmenschlichen Propaganda-Medien eh nur belogen und betrogen, und unliebsame Meinungen werden unterdrückt!!! Die Frage ist nur: Wie stellt man die Frage nach der Bedeutung der Differenz für das in Rede stehende Ereignis, ohne dass das diejenigen verletzt und in Gefahr bringt, die eh die Schwächsten sind und permanent von Diskriminierung betroffen – die friedlichen Angehörigen religiöser, ethnischer und kultureller Minderheiten in diesem Land?

Welchen Unterschied meinen wir jetzt genau?

Vielleicht könnte es ja helfen, die Frage nach der Bedeutung der Differenz erst einmal durchaus zuzulassen. Zuzulassen, um sie sodann zu erweitern: Welche Differenz ist das jetzt genau? Die zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen? Die zwischen Männern und Frauen? Säufern und Nüchternen? Männern aus deutschen Hochhäusern und Männern in Flüchtlingslagern? Welche Differenzen gibt es dort noch, wo wir gerade so wenige sehen, weil wir zu oft nur von der Gruppe der Flüchtlinge sprechen? Statt von Christen und Muslimen, Schiiten und Sunniten, Syrern und Eritreern?

Es ginge dabei nicht darum, Trennendes übermäßig zu betonen und damit zu betonieren. Es ginge darum, mit allen, die dazu in der Lage sind, in ein Gespräch über Unterschiede zu kommen, die ja vielleicht sogar stärker wahrgenommen werden, als sie sind. Ein solches Gespräch könnte helfen, Ängste zu nehmen. Es könnte auch aufzeigen, dass es nicht nur in TV-Serien über Nonnen, sondern auch unter Muslimen Menschen gibt, die großartig sind – nicht, obwohl sie fromm sind, sondern weil sie fromm sind. Vor allem könnte es, wenn es so viele wie möglich beteiligt, anstatt manche nur zum Gegenstand der Deutungen anderer zu machen, ein Rahmen sein, in dem ein Wandel durch Annäherung stattfindet. Denn auch das sagt die Studie über Muslime und Nicht-Muslime: Je näher die Gruppen einander kommen, desto weniger empfinden sie sich gegenseitig als Bedrohung. Man muss die Annäherung wollen. Alles andere führt zu Rassismus.

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