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Marlene Burow in "Irgendwann werden wir uns alles erzählen" von Emily Atef

© Peter Hartwig/ Pandora Film / Row Pictures

„Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ im Kino: Das Ende der DDR als fernes Wetterleuchten

Emily Atef hat Daniela Kriens Wenderoman über sexuelles Erwachen und grenzübergreifende Familienkonflikte mit selbstgenügsamer Gelassenheit verfilmt.

Von Kerstin Decker

Das Mädchen liest. Statt mit ins Buch zu schauen, beobachtet die Kamera die Liegende, ihre anwesende Abwesenheit, ihre entspannte Spannung. Ein junger Mann tritt ans Bett, fragt, ob sie nicht zur Schule müsse. Johannes könnte Marias Bruder sein, doch er ist ihr Freund; immer werden sie wie Geschwister wirken. Die Schul-Mahnung an die Abiturientin löst sich auf in Zärtlichkeit. Von Anfang an ist klar: Hier stimmt alles. Hier stimmt gar nichts. Und schon in dieser ersten Szene beginnt man, Emily Atefs „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ für seinen abwesenden Erklärungsdrang zu mögen.

Alle Ordnung löst sich auf

Sagen wir also, was er nicht sagt: Es ist das Frühjahr 1990, Wendezeit in der DDR. Nicht nur Schüler, auch Lehrer fehlen plötzlich, von einem Tag auf den anderen. Alle Ordnung löst sich auf, aber das ist hier auf dem Land, auf dem alten Hof von Johannes’ Familie in Thüringen nur wie ein fernes Wetterleuchten spürbar. Atef macht Filme aus Atmosphären, spätestens seit ihrem Romy-Schneider-Film „Drei Tage in Quiberon“ weiß man das.

Als Maria dem Hof gegenüber, ganz allein zwischen Hügeln gelegen, zu nahe kommt, wird sie von zwei Rottweilern angefallen; die wollen nicht spielen. Der Besitzer ruft die Hunde zurück, fast wirkt es, als ließe er sich Zeit. Wie aus dem Nichts heraus bricht in dem großen Frieden dieses Sommertages eine namenlose kreatürliche Angst auf. Der Mann scheint den Anblick der Erschütterten zu genießen, seine Entschuldigung ist genau genommen gar keine. Und dann streicht er ihr wie zur Begütigung über die Haut. Nein, keine Begütigung, eine Berührung wie ein Besitzanspruch, obwohl sehr sanft: Ich lege meine Hand auf dich!

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Marlene Burow und Felix Kramer als Maria und Henner: Vom ersten Augenblick an ist da eine Spannung zwischen ihnen, die über diesen Film entscheidet. Die ihn trägt. Eine Spannung von der Art, die nicht mehr von allein verschwindet, die ausgetragen werden muss. Eine sexuelle, genauer, eine auf Leben und Tod. Und das zwischen zwei tendenziellen Nichtarchaikern wie dieser jungen, Dostojewski lesenden, schulschwänzenden Abiturientin und dem Pferde züchtenden Einzelgänger, dem die übrigen Dorfbewohner mit Misstrauen begegnen.

Eine Studie über sexuelle Hörigkeit?

Henner, doppelt so alt wie Maria, ist kein per se harter Mann. Im Gegenteil: Er ist zu wunderbarer Sanftheit fähig. Aber seine Sexualität ist hart, sie ist Angriff, Bemächtigung, nichts weiter. Und dem liefert sich diese sensible junge Frau aus? Regisseurin und Darsteller wagen eine – gelingende – Gratwanderung, denn das sind beileibe keine kinoalltäglichen Beischlafszenen; und der Zuschauer ist kaum gestimmt, sich unversehens in einer Studie über sexuelle Hörigkeit wiederzufinden. Dazu ist das, was sonst noch geschieht, viel zu wesentlich.

Emily Atef zieht die Fäden mit leichter Hand, legt sie durcheinander, übereinander und unterläuft jedes Mal gekonnt die Erwartungen. Maria lebt nicht nur bei ihrem Freund und seiner Familie, weil jede erste Liebe Nähe sucht. Sie wollte weg von ihrer nun arbeitslosen Mutter, die den Halt wohl schon verlor, nachdem Marias Vater sie verließ.

Aber auch Johannes’ Familie bleiben die Erschütterungen nicht erspart. Als die Großmutter eines Tages noch schweigsamer ist als ohnehin (Christine Schorn, wunderbar knorrig), wird bald klar: Der älteste Sohn, der einstige Lieblingssohn, von dem niemand spricht, kommt zu Besuch. Hatte er nicht einst mit seinem Fortgang in den Westen das eherne Gesetz verletzt, dass kein Bauer seinen Hof verlässt?

Henner (Felix Kramer) wird von den anderen Dorfbewohner gemieden.
Henner (Felix Kramer) wird von den anderen Dorfbewohner gemieden.

© Peter Hartwig/ Pandora Film / Row Pictures

Und da ist schließlich auch noch Johannes (jungenhaft-unbefangen: Cedric Eich), der Fotograf werden will und seine Maria festhält, mit einer so vertrauensvollen, spielerischen jugendlichen Liebe, die alles erwartet, nur keinen Verrat. Die Dinge neigen wie die Zeit selber zu leicht katastrophischer Eigendynamik. Und im Auge des Sturms stehen Maria und Henner: Noch nie hat er sich so weit auf eine Frau eingelassen.

Der Gestus des Films bleibt dabei ganz auf der Seite der selbstgenügsamen Schönheit und Gelassenheit eines Sommers und der alten Ordnung des ländlichen Lebens. Die Tonspur fängt jede Vogelstimme ein; die Sprache der Menschen ist nur eine unter anderen. Und der Kamerablick gleitet immer wieder über die vollkommene Hügellandschaft, die es wohl bald nicht mehr geben wird, wenn erst die Gewerbegebiete und Supermärkte der neuen Zeit sie erobert haben.

Noch umstehen der Hof und das Land die Menschen aber wie eine Heimat, selten war das im Kino so wahrnehmbar. Das Reizvollste an „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ ist vielleicht, dass hier alle Dinge mehr bedeuten als nur sich selbst. Und nichts ist zufällig. Nicht einmal Henners Unwille, ja, Verzweiflung bei dem Versuch, nebenan im Westen ein Bier zu bestellen. Irgendwann glaubt man die Personen dieses Films dreifach zu sehen: mit ihren eigenen Augen, mit denen des Films und denen der Außenstehenden. 

Freiheit, ist sie nicht das Wissen um die Fülle aller Möglichkeiten? Sie liegt gerade in der Luft. Oder ist Freiheit ungehinderter Zutritt zum Nichts?

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