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Ach, wie schön war’s doch im Partykeller. Boomer-Ekstasen in Oberhausen-Sterkhausen, wie man sie 1981 lebte.

© Foto; Imago

Kapitalistische Kohorte: Das kurze Glück vor der langen Krise

Thomas E. Schmidt zeichnet ein Charakterporträt der westdeutschen Boomer-Generation.

Wir sind viele, wir sind nicht besonders grandios, aber wir sind bisher ganz gut durchgekommen, so ungefähr charakterisiert Thomas E. Schmidt die riesige Alterskohorte der eigenen, westlich sozialisierten Generation. Lange sprach man einfach von den „geburtenstarken Jahrgängen“, bis die Kinder der großen Verdränger-Generation den Spieß umdrehten und den englischen Begriff „Boomer“ zu einer polemischen Waffe schmiedeten.

„OK Boomer" ist mittlerweile so etwas wie die ironische Generalreplik der Jüngeren gegen ältere Besserwisser, insbesondere wenn die ihnen Bequemlichkeit, einen aufwendigen Lebensstil oder zu viel Sensibilität vorwerfen.

[Thomas E. Schmidt: Große Erwartungen. Die Boomer, die Bundesrepublik und ich. Rowohlt Verlag, Hamburg 2022. 255 Seiten, 23 €.]

Die Generation der zwischen 1955 und 1969 Geborenen, wie die Boomer in der Bundesrepublik meistens definiert werden, leistet sich in der Tat einen „historisch unvergleichlichen Lebensstil“ und strapaziert „die Ressourcen der Erde in schlimmer Weise“. Das gibt der 1959 geborene Autor unumwunden zu. „Große Erwartungen“ ist erkennbar aus einer Verteidigungshaltung geschrieben. Die Ersten gehen in Rente, manche sind bereits gestorben – es weht ein Hauch von Altersmelancholie durch die Betrachtungen des Feuilletonredakteurs der „Zeit“. Dabei ist der Generationenbegriff wie so oft ein Behelfsinstrument, um „eine historische Zäsur zu markieren“. Um welche geht es?

Zauberhaft entrückt

In weltpolitisch disruptiven Zeiten wie heute, in denen geopolitische Machtverschiebungen stattfinden, bei denen die scheinbare Stärke von gestern heute schon den Zusammenbruch von morgen ankündigt, in Zeiten, in denen die Weltwirtschaft noch einmal Atem vor dem nächsten finanzökonomischen Tsunami zu holen scheint, in denen China womöglich gegen alle Vernunft tatsächlich Taiwan annektieren sollte und eine neue Lunte an die atomaren und klimatischen Pulverfässer dieser Welt legt, in Zeiten der Polykrise also, wie der französische Komplexitätstheoretiker Edgar Morin die Überlagerung mehrerer Krisen nannte, wirkt ein Buch wie Thomas E. Schmidts „Große Erwartungen“ auf eine fast schon zauberhafte Weise entrückt.

Dabei singt der Autor gar nicht unbedingt das Lied von den guten alten Zeiten. Doch was er beschreibt, ruht so satt auf den Stabilitätspfeilern der alten Bundesrepublik, dass „Große Erwartungen“ zu einer Mentalitätsgeschichte Westdeutschlands wird.

Generationsgenossen werden vieles wiedererkennen, selbst Generationsgenossinnen entdecken manches, das ihnen vertraut ist. Zuallererst, irgendwann in mittleren Lebensjahren festgestellt zu haben, wie kurz der Zweite Weltkrieg bei der eigenen Geburt vergangen war. In der Kindheit und noch im jungen Erwachsenenalter schien er in grauer Vorzeit zu liegen. Nach der eigenen Lebenserfahrung historischer Einschnitte verschoben sich die Maßstäbe. Im Gedächtnis ploppen Erfahrungen auf, die nun selbst wieder die Aura grauer Vorzeit haben. Wie selbstverständlich etwa der Ausdruck „Kriegsversehrte“ war und Menschen mit fehlenden Gliedmaßen.

Kindlicher Schauer

Thomas E. Schmidt beschreibt den kindlichen Schauer beim Anblick eines in den primitiven Rollstühlen der Zeit sitzenden Mannes, dessen fehlendes Bein von einer dunklen Wolldecke kaschiert wird. Im Schrecken des Anblicks über etwas, das fehlt, erkennt man den strukturalistisch und dekonstruktivistisch geschulten Autor, zu dem er wurde.

Die Beschreibung einer Kindheit, in der die soziale Durchmischung der Nachbarschaften zur unhinterfragten Normalität gehörte, ist genauso überzeugend wie die Zeit des Studiums als einer verlängerten Adoleszenz, die alle Verpflichtungen auf unbestimmte Zeit aufschob. Schmidt wundert sich über die damalige Toleranz seiner Eltern. Der Vater war Ingenieur und viel in der Welt unterwegs, doch die Reisen ins „Außen“ wurden nicht ins bundesrepublikanische Selbstbild der Familie integriert.

Während die erzählenden Episoden der Kindheit und Jugend dicht und stimmig sind, wird der Duktus später gelegentlich zwischen den verschiedenen Anforderungen zerrieben. Da heißt es dann plötzlich, es gehe zum Glück nicht um die eigene Lebensgeschichte. Von einem Journalisten, der die „Frankfurter Rundschau“ verlassen musste, weil er im Feuilleton Politik machte und sein Stil zu „knorrig“ war, wie er schreibt, hätte man gern mehr erfahren, als dass sein Anwalt über die Zustände dort gelacht habe.

Thomas E. Schmidt hat als Ghostwriter für Frank-Walter Steinmeier gearbeitet, er verortet sich in der SPD, leitete das Feuilleton der „Welt“ und hat „Ausflüge in den Pop und in den Neokonservativismus“ unternommen.

Verkleinerung von Problemlagen

Neben pointierten Formulierungen, etwa über Helmut Schmidt, der dem „deutschen Wunsch nach Verkleinerung von Problemlagen“ entgegenkam, oder Gerhard Schröder als „Held in der letzten virilen Performance“, neben plausiblen Kurzfassungen, beispielsweise des Historikerstreits, hätte man sich mehr Selbstreflexion in Hinsicht auf die männliche Dominanz gewünscht, die auch das vermeintlich plurale Debatten-Feuilleton der späten neunziger und nuller Jahre prägte.

Thomas E. Schmidt beschreibt die Individualisierung und die Ausdifferenzierung allerfeinster Stilunterschiede, in Hinsicht auf Pop, Wein, Reisen usw., als Gegenbewegung einer am Gängelband ständiger Bildungsreformen aufgewachsenen Generation. Die Kultivierung von Besonderheiten, wie sie der Soziologe Andreas Reckwitz treffend in „Die Gesellschaft der Singularitäten“ analysiert, ist aber kein Generationenphänomen, sondern eine Folge spätkapitalistischer Ökonomie.

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Schmidt betreibt Spiegelfechtereien, wenn er gegen die „rebellischen Kids im Zeichen des Klimaschutzes und des Antirassismus“ polemisiert, sie wollten „ein emissionsfreies Leben ohne Kapitalismus und alte weiße Männer“, hätten aber noch „keine andere Bundesrepublik erlebt als diese Merkel’sche“.

Seine Replik inszeniert einen Generationenkonflikt, der die Sache, um die es geht – eine globale Umkehr in der Klimapolitik – allzu sehr verharmlost.

Am Ende kommt er dann doch auf eine gute Idee. Wie wäre es, im Alter aufs „Abhängen“ zurückzukommen? Auf jene „asketische Lebensform“ also, die der Zäsur, an der Abbruchkante des Kohlenstoffzeitalters angekommen zu sein, mit jenen ressourcenschonenden „Verhaltensweisen der Aufsässigkeit“ begegnet, wie sie in den 1970er Jahren eingeübt wurden: „Hocken, Liegen, Hängen, Schweigen, Totlachen.“

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