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Auch nach 20 Jahren noch ein bewegender Roman.

© Illustration: Rotraut Susanne Berner

Kinderbuch: Eine Frage der Sichtweise

Irene Disches feiner Roman „Zwischen zwei Scheiben Glück“ neu aufgelegt

Tja, das fragt man sich sofort bei dem schönen, poetischen Titel dieses 1997 erstmals erschienenen und nun vom Hanser Verlag neu aufgelegten Romans: Was zwischen zwei Scheiben Glück wohl alles passt? Wie dick eigentlich eine Scheibe Glück ist? Am Ende ihrer schmalen und doch so reichen Geschichte über einen Jungen im Ungarn zur Zeit des Zweiten Weltkriegs zitiert Irene Dische den Romantitel tatsächlich. Sie lässt eine alte Frau sagen, dass zwischen den beiden Glücksscheiben eine Menge Unglück liegt: „Die alte Frau“, schließt Dische an, „die sich mit der Unausweichlichkeit des Glücks so gut auskannte, war Peters Großtante.“

Im Fall von Peter muss man zunächst von einigem Unglück sprechen. Es ist das Jahr 1938, und der Sechsjährige wächst ohne Mutter bei seinem Vater Laszlo und dem gestrengen Großvater Dr. Nagel auf, in einer ungarischen Kleinstadt, nahe der österreichischen Grenze. Seine Mutter ist tot, er hat sie nicht kennengelernt. Eines Tages nimmt ihn sein Vater mit nach Berlin, er hat hier beruflich zu tun.

In Berlin staunt Peter über die Hakenkreuze, mit denen er ein Bilderbuch vollkritzelt, über einen Nachbarn, der die Haushälterin seines Vaters fragt, warum sie für Ausländer arbeite, und über die vielen Scherben, die es in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 gibt. Die Nazis sind „die Chefs in Deutschland“, und sein Vater führt Peter ins Kino, in Nachtclubs und erklärt ihm, was ein Jude ist und dass seine tote Mutter ebenfalls Jüdin war.

Geschickt führt Dische ihre jungen Leser und Leserinnen in das Berlin der Nazizeit, mit subtilen, vielsagenden Szenen und den Augen eines Jungen, der das alles noch nicht begreift – und einen Vater hat, der oft das Wort „Glück“ im Munde führt, auch als er Peter nach der Reichspogromnacht wieder zurück nach Ungarn zu seinem Großvater schickt.

Briefe trösten über die Abwesenheit des Vaters hinweg

Erstaunlich, wie schnell und klar Dische ihre Striche zeichnet, wie sie keine Erzählumwege macht, wie sie ihr Leitmotiv vom Glück und Unglück durch den Roman zieht.

Denn nun ist Peter quasi elternlos, und doch kümmert sich sein gestrenger Großvater um ihn: nach einem täglich gleichen Regelwerk und ohne große Gefühlsregungen, wie es scheint.

Doch behütet ist diese Kindheit trotzdem, gerade in Zeiten, in denen es auch in Ungarn in den Kriegsjahren 1943/44 immer unruhiger wird. Und dann sind da ja noch die Briefe, die Peter jeden Samstag von seinem Vater bekommt und ihn über dessen Abwesenheit hinwegtrösten, mit Zeilen wie „Obwohl Krieg ist, geht es mir sehr gut. Obwohl du nicht hier bist, was ich sehr bedaure, jeden Tag mindestens eine Stunde lang, mein innig geliebter Sohn“.

Irgendwann entdeckt Peter, was es mit diesen Briefen auf sich hat, vor allem mit denen, die später der vermeintlichen besseren Leserlichkeit wegen mit Schreibmaschine geschrieben werden. Obwohl wieder einiges Unglück mit dabei ist, der Großvater1944 stirbt, „was eigentlich noch gar nicht so lange her ist“, wie Dische mehrmals schreibt, paart sich dieses Ungemach mit dem Glück, einen überraschend gütigen Großvater gehabt zu haben.

Es wird vieles noch einigermaßen gut für Peter – und natürlich, auch das lernt man aus diesem feinen Roman, ist das mit dem Glück oft eine Frage der Sichtweise, nie eine des reinen Gewichts, des Dünn- oder Dickseins.

Irene Dische: Zwischen zwei Scheiben Glück. Roman. Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser. Hanser Verlag, München 2018. 86 Seiten, 14 €. Ab 12 Jahren.

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