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Donizettis „Lucia di Lammermoor“ an der Deutschen Oper Berlin

© Bettine Stöß/Deutsche Oper Berlin

Kolumne „Der Klassiker“ (Folge 47): Wenn Musik die Seele weckt

Woran ermisst sich die gesellschaftliche Relevanz der Oper? Wenn sie eine Verbindung zu den Konflikten von heute herstellt - oder wenn die Anwesenden von der Macht der Musik berührt werden?

Eine Kolumne von Frederik Hanssen

Je düsterer die Zeiten sind, desto relevanter kann Oper sein. Der Autor Vladimir Kaminer, als „Russendisko“-Macher eher ein Mann der Popkultur, erzählt vom deprimierenden Leben seiner Mutter im Moskau der frühen Nachkriegsjahre. Zusätzlich zum allgegenwärtigen Elend dieser Zeit war sie gezwungen, in einem Kellerloch zu hausen, in dem sie sich wie lebendig begraben fühlte.

„Ihre Seele war wie eingeschlafen“, schreibt Kaminer, „sie kannte weder Freude noch Trauer.“ Bis zu dem Tag, als sie mit ihrer Schulklasse das Bolschoi Theater besuchte. Ein Erweckungserlebnis: Alles war prächtig, geschmackvoll ausgestattet, auf der Bühne standen Sängerinnen, die keine Filzstiefel trugen, wie alle weiblichen Wesen, die sie kannte, sondern Stöckelschuhe.

Starke Stücke erzählen zeitlose Geschichten

Tschaikowskys „Eugen Onegin“ wurde an diesem Abend gespielt. Aber das war fast egal, denn jede Oper hätte diese lebensverändernde Wirkung gehabt: „Das Licht des Theaters und die wundervolle Musik hatten ihre Seele geweckt. Sie war zum Leben erwacht.“ Von ihrem ersten selbstverdienten Geld kauft sich Vladimir Kaminers Mutter genau solche Schuhe, wie sie Tschaikowskys Tatjana an diesem unvergesslichen Abend im Bolschoi trug.

Wenn Intendantinnen und Intendanten deutscher Opernhäuser heute von der gesellschaftlichen Relevanz sprechen, die ihre Institutionen unbedingt entfalten müssten, dann meinen sie damit meistens, dass die Inszenierungen aktuelle Konflikte und Debatten aufgreifen. Die Welt da draußen soll in ihre Bühnen ausstrahlen.

Aber stellt sich Relevanz wirklich dadurch ein, dass Alltagsthemen anspielt werden? Manche Menschen gehen ja sogar in der Hoffnung in die Oper, bei „Don Giovanni“, „Carmen“ und „Tosca“ für ein paar Stunden jenem Schlechte-Nachrichten-Gewitter entkommen zu können, das sie ununterbrochen in allen Medien umtost.

Werke, die es ins Repertoire geschafft haben, sind starke Stücke. Wahrhaftig und ergreifend durch die Geschichten, die sie erzählen, auf zeitlos gültige Art und Weise. Die gesellschaftliche Relevanz der Oper lässt sich also auch daran ermessen, ob es einer Aufführung durch die schiere Macht der Musik gelingt, den Anwesenden neue Kraft zu schenken. Wenn sie, wie es Vladimir Kaminer formuliert, „die Seele weckt“.

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