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Die lesende Maria. Gemälde von Carpaccio (um 1510).

© Venezia, Fondazione Musei Civici di Venezia, Museo

Leben und Treiben in der Hochrenaissance: Vittore Carpaccio in Venedig

Der große Maler hat die Stadt an der Lagune wie kein anderer so für die Nachwelt bewahrt, wie sie sich selbst verstand

Keine zweite Stadt gibt es, in der wie in Venedig die dort geschaffene Kunst noch so oft an ihren ursprünglichen Bestimmungsorten zu sehen ist. Man muss die großen Kirchen besichtigen, wahre Museen wie die Frari-Kirche, wie San Zanipolo oder San Zaccaria. Und man muss diese Besonderheit Venedigs aufsuchen, die so genannten „Scuole“, die keine Schulen sind, sondern Gesellschaftshäuser der einflussreichen Vereinigungen vorwiegend karitativen Charakters. Um 1500 gab es mehr als 200 solcher Vereinigungen, die übrigens in der Mehrzahl auch Frauen offenstanden.

Der Maler Vittore Carpaccio, um 1465 in Venedig geboren, hat mehrfach für solche Schulen und ihre Versammlungssäle Bilderzyklen geschaffen. Die prachtvolle Ausstattung war ein Muss und stellte die Leistungskraft der jeweiligen Vereinigung zur Schau. Wenn jetzt im Dogenpalast erstmals nach sechs Jahrzehnten das Werk Carpaccios in einer großen Ausstellung gezeigt wird, so kann dennoch nicht vom „Gesamtwerk“ die Rede sein. Denn die beiden bedeutendsten Gemäldezyklen fehlen. Der eine zum Leben der Hl. Ursula befindet sich in der Accademia, dem Kunstmuseum der Stadt (ausgerechnet derzeit nicht zugänglich), der andere in der Scuola di San Giorgio degli Schiavoni noch so, wie ihn Carpaccio ausgeführt hat.

John Ruskin, der große Venedig-Verehrer des 19. Jahrhunderts, beklagte sich über die schlechten Lichtverhältnisse in der recht kleinen Scuola. Auch heute entspricht die Beleuchtung nicht dem von Museen gewohnten Standard. Aber nur hier ist zu begreifen, wie sich der Künstler nach den räumlichen Verhältnissen zu richten und die Maße seiner Bilder anzupassen hatte. Neun Tafeln gleicher Höhe, aber sehr unterschiedlicher Breite hat Carpaccio ab 1502 nach und nach ausgeführt, dem Drachentöter Georg als Schutzheiligen der Vereinigung gewidmet. Nur eine Tafel hat ein ganz anderes Sujet und zeigt den Kirchenvater Augustinus in seinem Studierzimmer.

Mit der Mode der Zeit

Es ist eines der Meisterwerke des Malers, der wie kein zweiter das Leben und Treiben Venedigs zur Zeit der Hochrenaissance festgehalten hat. Wo immer die Bildthemen zeitlich angesiedelt waren – die Ursula-Legende im 5. Jahrhundert –, Carpaccio holte sie in seine Gegenwart. Er gab den Personen die Mode seiner Zeit, ja machte sie in Körperhaltung und Gebärden zu realen Zeitgenossen. Dann wiederum ließ er seiner Eingebung freien Lauf, wenn er die Bauten Jerusalems imaginierte oder die von Köln oder dem mittelalterlichen England. Und doch stecken in jedem der kunstvollen Gebilde Beobachtungen bestehender Bauten, die der Künstler sich anverwandelte.

Bisweilen malte er unmittelbar die Realität Venedigs. Nur durch ihn wissen wir, wie die hölzerne Rialtobrücke vor dem bis heute bestehenden Neubau aussah. Und durch sein wohl berühmtestes Gemälde, lange als Darstellung zweier „Kurtisanen“ missverstanden, haben wir Einblick in die Welt der venezianischen Oberschicht. Das Bild der beiden gelangweilten, reich ausstaffierten Damen gehört mit der im fernen Getty-Museum bewahrten Szene der in der Lagune jagenden Patrizier zusammen. Die vor vielen Jahrzehnten getrennten Bildhälften müssen einst als Zimmertür gedient haben. Sie in der ursprünglichen Weise verbunden zu sehen, ist allein eine Reise wert.

Die „Schiavoni“, für die Carpaccio malte, waren die Bewohner Dalmatiens, des zu Venedig gehörenden, jedoch ständigen Angriffen der Osmanen ausgesetzten Küstenstreifens. Noch weiter südlich lebten die Albaner, für deren Vereinigung Carpaccio ebenfalls einen Bildzyklus malte. Für eine andere, stärker geistlich ausgerichtete Vereinigung malte Carpaccio Szenen aus dem Leben des Hl. Stefan. Nach der 1807 verfügten Auflösung aller Scuole wurde der Zyklus verstreut, wobei eine hochbedeutende Tafel später nach Berlin gelangte. Sie kehrt nun als Leihgabe der Gemäldegalerie zurück.

Carpaccio hat in diesem Zyklus Darstellungen aus Reiseberichten über Jerusalem verwendet, dazu orientalische Stoffe und Trachten detailgenau wiedergegeben. In der Ausstellung sind zahlreiche Vorzeichnungen zu bewundern, die die sorgfältige Erarbeitung der Bildmotive bezeugen. Auffallend ist, wie stark sich Carpaccio in seinen späteren Werken auf Albrecht Dürer bezieht. Dessen grafisches Werk kannten alle Künstler Venedigs, und seine Kompositionen dienten unmittelbar als Vorlage für Gemälde wie Carpaccios späte „Flucht nach Ägypten“ von 1518.

Die Ausstellung schließt mit dem annähernd vier Meter breiten Großformat, das Carpaccio für die Zollbehörde seiner Vaterstadt gemalt hat, dem geflügelten Löwen von Sankt Markus. Er steht halb im Wasser, halb auf Land, Handelsschiffe zur Rechten, den Dogenpalast zur Linken. Das ist Venedig, wie es sich verstand. Vittore Carpaccio hat es für die Nachwelt bewahrt.

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