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Die französische Schriftstellerin Virginie Despentes.

© picture alliance/dpa/EFE/EPA/Juan Carlos Hidalgo

„Liebes Arschloch“ von Virginie Despentes: Drogen und Diskursschleuderei

Die französische Schriftstellerin lässt in ihrem neuen Roman eine junge Feministin, einen Schriftsteller und eine berühmte Schauspielerin aufeinander los - in Form eines E-Mail-Verkehrs.

Der Briefroman, besser, weil heutzutage realistischer: der E-Mail-Roman hat Konjunktur. Juli Zeh und Simon Urban schreiten in ihrem, der den bezeichnenden Titel „Zwischen Welten“ trägt, alle Diskurs- und Debattenwege unserer Zeit ab und stehen seit Wochen an der Spitze der Bestsellerlisten; und auch die französische Schriftstellerin Virginie Despentes hat für ihren neuen Roman mit dem nicht weniger bezeichnenden Titel „Liebes Arschloch“ („Cher Connard“ im Original) diese Form gewählt.

Warum, wird schnell offensichtlich. Denn auf diese Weise lassen sich Meinungen und essayistische Betrachtungen viel leichter in einer Geschichte unterbringen, Sätze wie „Eine neurotische Gesellschaft hat neurotische Reflexe, keine gesunden“ oder „Anscheinend arbeiten die klügsten Köpfe hartnäckig daran, wie man dich möglichst lange am Display hält. Eine Wissenschaft der Sucht.“ 

In „Liebes Arschloch“ ist denn auch vieles von dem drin, was eine Gesellschaft am Laufen hält, umtreibt oder zerstört: das Internet und die sozialen Medien, die Literatur, der Pop und der Film, Drogen und Sex, Macht- und Geschlechterverhältnisse, Pharmaindustrie und boomendes Coaching-Wesen, der Traum vom sozialen Aufstieg und die Klassenfrage. All das zumeist in dem rasend-brachialen, unverblümt und vom Punk beeinflussten realistischen Erzählsound, den man von der 1969 in Nancy geborenen Despentes kennt und schätzt, aus Büchern wie „Baise-Moi“, „King Kong Theorie“ oder der „Vernon-Subutex“-Trilogie.

Er Schriftsteller, sie Filmdiva

Despentes hängt ihren Roman an einer MeToo-Geschichte auf. Die Mails schreiben sich der Schriftsteller Oskar Jayack und die berühmte Schauspielerin Rebecca Latté, er um die vierzig, sie um die fünfzig. Darin geht es zunächst bevorzugt um seinen Fall: Oskar wird von der einstigen Verlagsassistentin Zoe Katana öffentlich des Missbrauchs angeklagt, nachdem er sich in sie verliebt und anschließend bedrängt und gestalkt hatte.

Rebecca hat nicht viel übrig für ihn, sie kennen sich, weil sie mit seiner Schwester befreundet ist: „Du bist wie eine Taube, die mir im Vorbeifliegen auf die Schulter kackt“. Und: „Von allen Frauen im Verlagswesen hast du dir die Einzige ausgesucht, die mit ihren feministischen Statements im Netz ein Riesending gelandet hat.“

Tatsächlich lässt Despentes einige Male auch Zoe mit ihrem feministischen Blog zu Wort kommen, ihre Sicht der Dinge schildern und auf ihn eindreschen. Während sich für Zoe fürderhin alles zunehmend schwieriger darstellt, sie plötzlich selbst gedisst wird und zwischenzeitlich in der Psychiatrie landet, bekommt der Mailverkehr von Oscar und Rebecca entspanntere, vertraulichere, beichthafte Töne

Eine neurotische Gesellschaft hat neurotische Reflexe, keine gesunden“

Oscar in „Liebes Arschloch“

Sie erzählt vom Leben als alternde Schauspielerin, er von seiner Literaturkarriere, seiner Beziehung zu Frau und Tochter; vor allem kommunzieren sie ihr Verhälntis zu den Drogen und wie sie bei den Narcotics Anonymous davon runterkommen. Mehr und mehr wird „Liebes Arschloch“ so zu einem Drogenentzugsroman, inklusive Coronaleid, und leider bekommen die Briefe/Mails den Bekenntnischarakter solcher NA-Runden. Was der Prosa von Despentes nicht gut bekommt.

Bei aller provokativen Finesse und Offenheit, mit der Oscar und Rebecca versuchen, vor dem Entzug ihren Drogenkonsum zu verherrlichen, bei aller klugen Differenziertheit, mit der Despentes den Feminismus beschreibt, auch mit seinen Untiefen, trägt „Liebes Arschloch“ kulturpessimistische Züge (die Medien, die sozialen erst, ihre prollige Diskursschleuderei!). Rebecca und Oscar machen am Ende ihren Frieden mit sich. Das hat etwas Erbauliches. Über das Schlackernde dieses Mischwesens aus Roman und Gegenwartsabrechnung kann man trotzdem nicht hinweglesen.

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