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Ein großer Franzose: Der Autokrat

Johannes Willms schildert Charles de Gaulle als Visionär aus einer anderen Zeit.

Wenn es einen Franzosen gibt, der in den Augen der Historiker einen noch größeren Stellenwert besitzt als Ludwig XIV. und Napoleon, dann ist das Charles de Gaulle. Der General, der im Juni 1940 von London aus zum Widerstand gegen die Nazis aufrief und die bis heute bestehende Fünfte Republik begründete, gilt über Frankreich hinaus als Person der Weltgeschichte. Bis heute bildet der Gaullismus einen Inbegriff für die Sonderrolle Frankreichs.

Gleichzeitig umfasst die Ära de Gaulles, der 1890 geboren wurde und 18 Monate nach seinem Rücktritt als französischer Staatschef im Jahr 1970 starb, mehrere Epochen. Der Historiker und Publizist Johannes Willms, der jetzt eine umfassende Biografie des Generals vorlegt, teilt dessen Leben in vier Abschnitte ein: von der Jugend bis zur Kapitulation Frankreichs im Zweiten Weltkrieg, vom Widerstand bis zu den letzten Tagen des Vichy-Regimes, von der Befreiung bis zum Ende der Vierten Republik und von der Rückkehr an die Schalthebel der Macht im Jahr 1958 bis zum Abgang. Die Einteilung ergibt Sinn, denn sie stellt jeweils zentrale Momente des Lebens de Gaulles ins Zentrum. Dazu zählt die anfängliche Förderung durch den „Helden von Verdun“, Marschall Pétain, der später zu seinem Gegenspieler wurde. Zur endgültigen Verwirklichung seines Führungsanspruchs kommt es bei der Direktwahl zum Präsidenten 1965 im Rahmen einer Verfassung, die ganz auf ihn zugeschnitten ist.

Die Londoner Rundfunkrede

Den Rang, den de Gaulle bis heute genießt, verdankt er indes vor allem seiner Radioansprache, die er mithilfe der BBC am 18. Juni 1940 von London aus an seine Landsleute hielt. Darin forderte er nach der Kapitulation vor Hitler die französischen Offiziere und Soldaten auf, sich mit ihm in Verbindung zu setzen. „Was auch immer geschieht, die Flamme des französischen Widerstands soll nicht erlöschen und wird nicht erlöschen“, rief de Gaulle damals aus. Seine Ansprache ging zwar im Kriegswirrwarr unter, doch begründete sie den Mythos des „l’homme du 18 juin“ – des Mannes, der den Nationalsozialisten die Stirn bot. Auf Jahrzehnte hinaus entfaltete die Verklärung de Gaulles ihre Wirkung: Als 1990 der 50. Jahrestag der Ansprache gefeiert wurde, ließ der Gaullist Jacques Chirac als damaliger Bürgermeister von Paris die riesige Nachbildung eines Radios aus den 1940er Jahren auf der Place de la Concorde aufbauen.

Sieger von 1940

Willms’ Biografie hilft, diesen Mythos zu entzaubern. Die Stärke de Gaulles bestand darin, seinen Führungsanspruch vor allem rhetorisch zu behaupten. Egozentrik und autoritäres Gehabe halfen ihm genauso wie die Selbstüberhöhung in seinen ab 1954 veröffentlichten Memoiren. Dort stellte er sich beispielsweise als Sieger einer Panzerschlacht mit Wehrmachtstruppen bei Abbeville in Nordfrankreich 1940 dar. Doch davon konnte in Wahrheit keine Rede sein.

Zudem zeichnet Willms das Bild eines Mannes, der aus der Perspektive seiner Mitbürger zwangsläufig als entrückt gelten musste. De Gaulle kannte sich im französischen Kolonialreich besser aus als in der Provinz des Mutterlandes.

Von oben herab wirkte denn auch die „nationalpädagogische Mission“, die der General nach dem Zweiten Weltkrieg verfolgte: Der Politiker de Gaulle, der sowohl von einem tief sitzenden Anti-Amerikanismus als auch von Misstrauen gegenüber dem „perfiden Albion“ geprägt war, impfte den Landsleuten seine Idee von der Größe Frankreichs als unabhängigem Spieler in der Weltpolitik ein. Sichtbarster Ausdruck war dabei der Aufbau der nuklearen „Force de frappe“.

Weg zur Weltmacht

Wie Willms herausarbeitet, muss auch der deutsch-französische Freundschaftsvertrag zwischen Konrad Adenauer und de Gaulle vor dem Hintergrund von dessen weltpolitischem Führungsanspruch verstanden werden. Während Adenauer im Elysée-Vertrag von 1963 die Vollendung der deutsch-französischen Aussöhnung sah, erblickte de Gaulle darin lediglich eine Zwischenetappe auf dem angestrebten Weg zur dritten Weltmacht neben den USA und der Sowjetunion.

Der Größenwahn des Generals spiegelt sich auch in seiner Unterstützung für den französischsprachigen Teil Kanadas wider, die in der Biografie ausführlich geschildert wird. Im Juli 1967 absolvierte de Gaulle einen Besuch in Kanada. Zuvor hatte er sich in einen „regelrechten Québec-Wahn“ hineingesteigert. Ganz entgegen der Doktrin des Gaullismus, der eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten ablehnt, stachelte er damals bei einer Rede in Montréal die Sezessionsbestrebungen an. Die kanadische Regierung reagierte verständlicherweise prompt und verwahrte sich gegen die Einmischungsversuche des Gastes aus Paris.

Parlament kaltgestellt

Neben der Fülle der Ereignisse, die Willms bündelt, fehlt allerdings eine ausführliche rückblickende Bewertung de Gaulles. Die einen sehen in ihm einen aus der Zeit gefallenen Autokraten, die anderen einen Visionär. Letzteres hat durchaus seine Berechtigung, denn schließlich hat de Gaulle den Fall des Kommunismus genauso vorausgesehen wie die darauffolgende Krise des Kapitalismus.

Im Rückblick kritisiert der Autor kursorisch, dass de Gaulle eine Verfassung geschaffen habe, die das Parlament weit gehend kaltstellt. Frankreichs derzeitiger Präsident Emmanuel Macron hat in diesem Punkt immerhin eine Korrektur angekündigt. Allerdings ist in Frankreich die Forderung eines kompletten Systemwechsels hin zu einer „Sechsten Republik“, die noch vor Jahren sehr laut war, inzwischen weitgehend verstummt.

In einer Welt, die zunehmend von Krisen geprägt wird und die eine zur schnellen Reaktion fähige Exekutive erfordert, scheinen die Franzosen mit ihrem Präsidialsystem doch nicht ganz so schlecht zu fahren. Albrecht Meier
Johannes Willms: Der General. Charles de Gaulle und sein Jahrhundert. Biografie. Verlag C.H. Beck, München 2019. 640 S. m. 35 Abb., 32 €.

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