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Kritik: "Sollen die Zonis bleiben, wo sie sind?"

Unterwegs in Deutschland, fast 20 Jahre danach: Michael Jürgs - selbst Opfer der Einheit - zieht eine Bilanz des Zusammenwachsens von Ost und West.

Michael Jürgs, der Ost-Skeptiker, der frühere "Stern"-Chefredakteur, ist unter die Wanderer gegangen. Unterwegs in Deutschland, dem unbekannten Land. Unterwegs nach Deutschland, dem einigen Land. Er hat mit vielen gesprochen, mit Bekannten und Unbekannten, mit Ost und West. Vor allem aber mit denen, die vor fast 20 Jahren in den letzten Stunden der DDR, die zugleich ihre schönsten waren, kurz im Scheinwerferlicht standen, mit Lothar de Maizière und Wolfgang Berghofer zum Beispiel. Danach hätte er aufgeben können. Viel zu viele Personen, Bilanzen, Meinungen. Daraus wird nie eine Einheit - also ein Buch.

Es ist doch eins geworden. Man kann die Arbeit, die ihn ihm steckt, nur ahnen und ist immer aufs Neue erstaunt, wie es weitergeht. Nichts ist vorhersehbar. Das ist gut. Und der Mann hat sich verändert. Jürgs hatte einst notiert, wie fremd ihm diese Rentner Ost in ihren Einheits-Windjacken waren, als sie vor 19 Jahren über die Hamburger Sonderangebote herfielen. Es war eine rein ästhetische Wahrnehmung, also eine abstandsvolle. Manche seiner Mitbürger Ost empfanden ähnlich - aber sie hätten es anders formuliert. Oder geschwiegen. Jürgs aber besaß den Objekt-Blick und die Objekt-Sprache derer, die wissen, dass sie nichts gemein haben mit den Gegenständen ihrer Beobachtungen.

Natürlich ist auch Jürgs ein Opfer der Einheit. Sein letzter Leitartikel als Chefredakteur trug den Titel "Sollen die Zonis bleiben, wo sie sind?", beinhaltend das Geständnis, dass ein einig Vaterland in seinen Zukunftsträumen keine Rolle spielte. Tage später war er Chefredakteur gewesen. Gefeuert wegen Aufrichtigkeit?

Nur 13 Prozent der Ostdeutschen sind zufrieden

Mit derselben Aufrichtigkeit erkundet er jetzt Deutschland fast 20 Jahre danach. Mit derselben etwas derben Jürgs'schen Sprache, aber Wanderstöcke sind auch robust. Jürgs ist ein Wanderer geworden - offen für alles und für alle, die ihm unterwegs begegnen, ohne Vor-Urteil. Ein inzwischen selten gewordener Typus, der nicht Belege sucht für das, was er ohnehin schon denkt.

Die statistische Ausgangslage heute: Nur 13 Prozent der Ostdeutschen sind zufrieden mit ihrem Leben nach dem Mauerfall. 75 Prozent der Westdeutschen wollen nicht mehr für den Aufbau Ost zahlen. Die Hauptfrage - wann werden wir wirklich ein Volk sein? - beantwortet Jürgs genau auf Seite 167, oder vielmehr, er lässt Matthias Platzeck antworten. Es wird noch dauern, bis die Mehrheit "eine gemeinsame Geschichte hat". Wer hatte das vorhersehen können in Ost und West, dass eine gemeinsame Vergangenheit, gemeinsame Erfahrungen wichtiger sein können als eine gemeinsame Gegenwart und Zukunft? Oder waren die gar nicht so gemeinsam, wenn für den einen alles bleibt wie bisher und für den anderen alles anders wird? Wir hätten uns mit den Polen wiedervereinigen sollen, hat mancher Ostler nach 1990 gesagt, und es war kein Witz gewesen. An solchen Bruchlinien des deutsch-deutschen Bewusstseins tastet Jürgs entlang.

Seine größte Entdeckung ist der erste schriftliche Schießbefehl - ein Befehl, von dem schließlich noch immer manche behaupten, es habe ihn nie gegeben. Erich Honecker gab am 3. Mai 1974 zu Protokoll: "Nach wie vor muss bei Grenzdurchbruchsversuchen von der Schusswaffe rücksichtslos Gebrauch gemacht werden, und es sind die Genossen, die die Schusswaffe erfolgreich angewandt haben, zu belobigen." Aber so weit schaut das Buch nur ausnahmsweise zurück.

Der Oberbürgermeister von Dresden sagt: "Es ist vorbei."

In das Wendejahr 89/90 dagegen schaut es ganz genau, rekonstruiert die Ereignisse von damals, besucht die Menschen von damals. Ein Geschichtsbuch als Geschichtenbuch. Darüber, wie der Dresdner Oberbürgermeister Berghofer am 7. Oktober 1989, beim Festakt zum 40. Geburtstag der DDR, aus dem Fenster den schweigenden Marsch der Dresdner sah und sagte: "Es ist vorbei."

Noch einmal holt Jürgs die Atmosphäre des Runden Tischs zurück, diesen ganzen wunderbaren Aufbruch Ost, und verschweigt auch nicht, dass Kanzler Kohl und die Seinen schon ein Stück weiter waren, nämlich längst hinaus über die Wahrheitssucher Ost mit den wirklichkeitsoffenen Augen, die keinen bloßen Beitritt wollten, denn "Wer auf einem solchen Weg nach der Einheit Deutschlands strebt, verletzt das Selbstwertgefühl und damit die Würde dieses Volkes".

Was ist falsch gelaufen?

Natürlich steht hinter allem die Frage: Was ist falsch gelaufen? Jürgs nennt nichts, was man nicht schon wüsste, aber er lässt es so verschiedene Menschen wie die vormalige Treuhandchefin Birgit Breuel (nicht intensiv die Vermögensbildung für die Ostdeutschen gefördert zu haben) und Egon Bahr sagen (der Grundsatz Rückgabe vor Entschädigung war fatal). Wenn es stimmt, dass selbst ein gesundes Unternehmen drei Jahre Übergangsfrist in einem neuen Wirtschaftssystem gebraucht hätte - muss man dann noch mehr wissen über die Chancen der Ostbetriebe, die kein Ostler kaufen konnte? Was der so ungeliebte Aufbau Ost noch immer ausgleichen muss, ist ein allzu leichtfertiger, indes politisch einst wohl durchaus gewollter Totalabbau Ost. Nichts sollte übrig bleiben von der DDR.

Jürgs spannt den Bogen bis zum oft verzweifelten, aber auch eigensinnigen Überlebenskampf heutiger Ostkommunen. Er misst die Erfolge der Rechten aus und deutet sie. Nur in manchen Dingen irrt er. Etwa wenn er den Ostdeutschen eine eher vorironische Geistesart attestiert. Dabei ist die Ironie das bevorzugte Kommunikationsmittel unter Diktaturen - eine der wenigen Möglichkeiten, alles zu sagen, ohne etwas gesagt zu haben.

Und was heißt, die Ostler hätten kein Selbstbewusstsein, wie Jürgs oft und getreulich wiederholt? Sie haben oft nicht das Selbstbewusstsein der Tätigen, der Erfolgreichen, das ist Realismus. Doch es existiert auch ein Selbstbewusstsein des Zuschauenden, des Außenstehenden. Das zieht sich oft ungut in sich zusammen, unter Umständen aber wird es auch geräumiger - menschlich reifer - als das einfache der Macher.

Michael Jürgs stellt sein Buch am 10. November um 19 Uhr 30 im Gespräch mit Tagesspiegel-Chefredakteur Stephan-Andreas Casdorff in der Berliner Urania vor.

Michael Jürgs: Wie geht's Deutschland? Populisten. Profiteure. Patrioten. Eine Bilanz der Einheit. C. Bertelsmann, München 2008. 368 Seiten, 19,90 Euro

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