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Sucht immer das Risiko. Emmanuel Carrère.

© AFP/Saget

Literaturtipps für die Sommerferien (3): Russische Biografie

Ein Urlaub ohne Lektüre wäre keiner. Doch welche Titel kommen ins Gepäck? Neue Reisebekanntschaften - und gute Bekannte.

Sein jüngstes Werk handelt von ... ja, was? Mit solchen Fragen kommt man bei Emmanuel Carrère ins Schleudern. Er liebt die Abschweifung. Er schreibt Romane, die keine sind, es sei denn, man betrachtet das Leben als einen Monsterroman mit irren Schwenks und brutalen Wendungen. Wie in Carrères „Yoga“. Er will sich in einem Retreat erholen, als islamistische Terroristen in Paris die Redaktion der Zeitschrift „Charlie Hebdo“ überfallen und elf Menschen ermorden. Carrère, Jahrgang 1957, begibt sich in der Folge mit einer schweren Depression in die Psychiatrie, und es wird auch danach nicht besser.

Er hat allerdings eine elegant-distanzierte Art, das Unvorstellbare zu erfassen, Katastrophen ziehen ihn an. In „Alles ist wahr“ erzählt er von einem Thailand-Urlaub, der im Tsunami untergeht, im Jahr 2004. Er sieht die Leichen, die Zerstörung, die verzweifelten Menschen in ihrem Schmerz und ihrer Trauer, die kein Beispiel hat. Zurück in Frankreich wird er mit der Krebserkrankung seiner Schwägerin konfrontiert.

Er wollte Putin rechts überholen

Urlaubslektüre? Carrères Bücher suchen die Katharsis, ringen um Empathie. Und wenn er auch als äußerst eitler Schriftsteller (und Filmemacher) gilt, der sich häufig selbst in den Mittelpunkt stellt, kann man sich in ihm wiederfinden. Auch etwas älter schon, vor zehn Jahren auf Deutsch erschienen, ist „Limonow“. Carrère enthüllt die Biografie des russischen Schriftstellers und Poeten Eduard Limonow (1943-2020), der sich als Avantgardist und Oppositioneller aufspielte, in New York lebte, im Jugoslawien-Krieg auf serbischer Seite Gräueltaten feierte und Putin stets rechts überholen wollte. Limonow ist keine Erfindung, das muss man hinzufügen.

Wer wissen will, warum Russland so ist, wie es ist im Jahr 2022, im Krieg gegen die Ukraine und die eigene Bevölkerung, erfährt bei „Limonow“ viel. Der Begriff „toxische Männlichkeit“ kommt bei Carrère nicht vor, und es ist auch ein viel zu nettes Wort für einen Menschheitsverbrecher wie den russischen Präsidenten. Aber es geht hier um nichts anderes: Männer. Männerbilder. Die lassen sich am besten mit schicken Models einrahmen: Limonow bevorzugte diesen Frauentyp. Schwulen Sex mit men of color zelebrierte er als sozialen Protest und Provokation. Ein Ultra in jeder Faser.

Nazis mit Hammer und Sichel

Von klein auf, so liest man hier, erlebt Eduard Limonow eine paramilitärische Erziehung. Er wächst in der Industriestadt Charkow (ukrainisch Charkiw) auf. Coming of Age nach dem Zweiten Weltkrieg in der Sowjetunion heißt hier: Anarchie, brutale Gewalt unter Jugendlichen, Alkohol, rechtsradikale Attitüde, Korruption. Die Breschnew-Jahre, als man im Westen von Entspannung sprach und sich die Verhältnisse in der Sowjetunion aufzuhellen schienen, werden von Limonow und Co. als Zeit der Weicheier empfunden. Wer ins Gefängnis geht, gilt als ehrenhaft männlich.

Ein Buch, ein Schock. Heilsam. Wer sich das antut, und Emmanuel Carrère ist wirklich keine nette Unterhaltung am Pool, schaut etwas klarer in die Welt. Seit Beginn der russischen Aggression liest man immer wieder Artikel mit der Frage: Wie konnte Putin nur so werden? Was haben wir übersehen? Carrères Antwort: alles. Dieser russisch-sowjetische Typus war immer so. Da hat sich nichts erst entwickelt in den letzten Jahren.

In Limonows Nationalbolschewistischer Partei wurde Lenin ebenso verehrt wie Hitler, Richard Wagner wie Rosa Luxemburg, Guy Debord und Andreas Baader wie Wladimir Majakowski. Ihre Zeitschrift hieß „Limonka“ - Handgranate, ihre Fahne hatte einen weißen Kreis auf rotem Grund, wie bei den Nazis, aber mit Hammer und Sichel.

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