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Der Berliner Schriftsteller Maxim Biller. Er wurde 1960 in Prag geboren.

© LOTTERMANN AND FUENTES(Kiepenheuer & Witsch)

„Mama Odessa“ von Maxim Biller: Der Kompass meiner Mutter

Die eigene Biografie, erneut ein Spiel: Maxim Billers neuester, wieder einmal zu Unrecht nirgendwo nominierter Roman „Mama Odessa“ ist sein bislang bester.

Es braucht gerade einmal zwei schnelle, kurze Kapitel in Maxim Billers neuem Roman „Mama Odessa“, und schon liest man eine Geschichte innerhalb der Binnenerzählung. Eine, die die Mutter des Ich-Erzählers geschrieben hat.

„Der Kompass“ heißt sie, und sie handelt von einem Kompass, den ein Vater seiner Tochter schenkt. Auch diese Geschichte ist schnell und kurz. Als sie zu Ende ist, offenbart Billers Erzähler: „Den Kompass aus der Geschichte meiner Mutter gab es wirklich – er gehörte erst einem Wehrmachtssoldaten, dann meinem Großvater, dann meiner Mutter.“ Anschließend zählt er auf, was alles daran wahr ist, „denn erfinden konnte meine Mutter beim Schreiben nie – nur ab und zu dabei etwas verschweigen.“

Biografie: ein Spiel

Mit Maxim Biller verhält sich das etwas anders – obwohl das Erfinden von Geschichten nur bedingt zu seinen Stärken gehört, sondern vielmehr das Variieren der eigenen Biografie, das Spiel damit. Biller treibt diese mal weiter, mal weniger weit ins Fiktive. Das reale Gerüst stabilisiert noch jedes seiner Bücher.

„Mama Odessa“ dreht sich in seinem Zentrum um eine Mutter und ihren Sohn, Aljona und Mischa Grinbaum, die aus Odessa stammen. Anfang der siebziger Jahre verließen sie die Sowjetunion, auch weil Vater Grinbaum unbedingt nach Israel wollte.

Sie landen jedoch in Hamburg, so wie 1970 Biller und seine Eltern, die aus Prag kamen. Vater Grinbaum verlässt in Deutschland seine Frau wegen einer „Nazi-Hure“, wie Biller die Mutter wahlweise ihre Nebenbuhlerin nennen lässt. Der Sohn ist da schon aus dem Haus, erst in München, dann in Berlin, genau wie the real Biller.

Mischa hat eine enge Beziehung zu seiner Mutter, der Vater spielt hier eine eher untergeordnete Rolle. Immer wieder telefoniert er mit ihr, besucht sie in Hamburg oder liest ihre nie abgeschickten Briefe an ihn nach ihrem Tod.

Episoden, Kurzgeschichten

Was hier ansatzweise chronologisch klingt, wird von Biller auf über dreißig nicht besonders lange Kapitel verteilt und ungeordnet-episodenhaft erzählt. „Mama Odessa“ wirkt passagenweise wie ein Roman, der aus vielen Kurzgeschichten besteht, darunter fünf, die die Mutter geschrieben hat. Sie sind im Buch kursiv gesetzt. Neben den drei Grinbaums gibt es ein paar wichtige Nebenfiguren wie den armenischen Großvater, Lassik Stein oder Martha Neustadt.

Biller ist kein raumgreifender Erzähler, die lange Romanstrecke liegt ihm nicht. Das ließ schon sein Debütroman „Die Tochter“ aus dem Jahr 2000 erkennen, spätestens 2016 sein eher verunglücktes Opus Magnum „Biografie“.

Dagegen ist er ein begnadeter Short-Story-Autor, der es inzwischen bevorzugt, viele Geschichten um ein Zentrum herum zu erzählen.Sechs Koffer“, der bislang vielleicht beste Roman von Biller, handelt von dem Geheimnis eines Mannes, der 1960 in der Sowjetunion hingerichtet wurde. Aus ihren jeweiligen Perspektiven versuchen hier die Mitglieder einer den Billers ähnelnden Familie dem „gewaltsamen Tod unseres Großvaters“ auf die Spur zu kommen.

„Mama Odessa“ dagegen erzählt in konzentrischen Kreisen und mit manchen Abschweifungen von einer engen Mutter-Sohn-Beziehung: von seiner Gereiztheit sie betreffend, seiner trotzdem unverbrüchlichen Liebe zu ihr, von ihrer gemeinsamen Begeisterung für die Literatur, ihrer beider schriftstellerischen Tätigkeiten. Mischas erste Geschichte handelt von seiner Mutter, danach wird er Schriftsteller, durchaus erfolgreich.

Und sie? Schreibt nebenbei, im Auto, vor einem Baumarkt in Winterhude, Toom, bis er sie an einen Verlag vermittelt, der ihr erstes und einziges Buch veröffentlicht. „Mama wurde als Schriftstellerin geboren, aber sie wurde es zu spät, um wirklich eine zu werden.“ Man darf sich bei diesem Satz an Rada Biller erinnert fühlen, Billers Mutter, die erst im Alter von 72 Jahren mit dem autobiografischen Roman „Melonenschale“ debütierte.

Emigration, Entwurzelung, Enttäuschungen

Die Folie von „Mama Odessa“ ist eine historische: Da ist das von den Nazis und rumänischen Truppen verübte Massaker an den Juden 1941 auf dem Tolbuchinplatz in Odessa; da ist Lassik Stein, der sein Leben lang für ein Denkmal auf dem Platz kämpft. In den sechziger Jahren wies er mit Mischas Vater immer wieder darauf hin, dass dort „Juden“ ermordet wurden, keine „Sowjetbürger“. Oder da ist ein Giftanschlag des KGB auf den Vater, der aber die Mutter trifft.

Vor diesem Hintergrund geht es um Emigration, Entwurzelung und Enttäuschungen, um das Leben von Mutter und Sohn. Biller vermischt dabei, wie man es von ihm kennt, Pop und Literatur. Das Sofa, auf dem die Mutter so oft zuhause sitzt, ist nicht nur rot, sondern ein rotes Rolf-Benz-Sofa; der schwarze Blazer bei ihrer ersten Lesung ist einer „von Armani oder Jil Sander“, Rowohlt veröffentlicht das Buch der Mutter, auch Suhrkamp und Hoffmann und Campe werden genannt.

Das rote Rolf-Benz-Sofa

Desweiteren hat der Erzähler einen „Paris-Bar-Freund“, Abdil Barjuti, der einzige Schriftsteller, „mit dem ich wirklich befreundet war“. Dieser Freund lässt an Jakob Arjouni denken. Dann wieder sitzt er mit „FAZ“-Redakteuren bei Peking-Ente und Wantan-Suppe in einem „DDR-Turm am Hackeschen Markt“; oder er wird von Ulrich, dem „Chef der Welt“ nach einer Rede zur Einweihung eines neuen Denkmals am Tolbuchinplatz gefragt. Von gar nicht so fern lächelt hier Ulf Poschardt herüber.

Wer Billers „Zeit“-Kolumnen kennt, spürt immer, dass diese ein Schriftsteller schreibt, kein Journalist. Wer wiederum seine Bücher liest, erkennt zwar häufig den Kolumnen-Biller, wenn nicht gar den „100-Zeilen-Hass“-Biller aus seiner „Tempo“-Zeit. Trotzdem hat jeder Satz n seinen Geschichten und Romanen einen literarischen Zugriff. Hier ist ein Erzähler mit einer schnellen, gelenkigen, mitunter in Mark und Bein treffenden Prosa am Werk. Mit wenigen Strichen öffnet Biller historische Räume und schließt sie schnell wieder, um sich nicht zu verlieren und zu den familiären Beziehungen seiner Figuren kommen zu können.

„Mama Odessa“ ist nicht nur die Liebeserklärung eines Sohnes an seine Mutter, sondern auch ein Schriftstellerporträt. Maxim Biller schreibt mutmaßlich von sich, von seiner Vergangenheit, wie er Autor wurde, den gesundheitlichen Macken, die das mit sich brachte. Wie heißt es einmal: „Ich wollte ganze Szenen und Tage und Wochen. Und ich wollte Wirklichkeit, echte Wirklichkeit, nicht bloß Literatur, die ich seit Jahren aus den Geschichten meiner Eltern und dem Wenigen, was ich selbst noch wusste, machte.“

Biller wird von Buch zu Buch besser. Erstaunlich ist dabei, wie der deutschsprachige Literaturbetrieb weiterhin einen großen Bogen um ihn macht: keine Preise, aktuell keine Nominierung, nichts. Doch um das zu skandalisieren, dafür ist „Mama Odessa“ viel zu schön.

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