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Mathias Enard

© Hanser/Pierre Marqués

Mathias Énards Roman „Der perfekte Schuss“: Entsetzliche Kriegsrealität

Wie aus einem historischen Genre wieder Gegenwartsliteratur geworden ist: Ein früher Kriegsroman des französischen Gonocourt-Preisträgers erscheint endlich auf Deutsch - und ist erschreckend aktuell.

Er liebt den frühen Morgen, das perfekte Licht. Bevor es hell wird, steigt er auf das höchste Gebäude vor der Frontlinie und schaut den Menschen drüben durchs Visier beim Leben zu. Und wartet er auf den Moment für den perfekten Schuss: „Mit einem Druck auf den Abzug bin ich bei ihnen.“

Er ist der beste Scharfschütze seiner Truppe. Sein Verhältnis zum Töten ist sportlich und ästhetisch. Ein Kopfschuss gilt als „hochwertiger Treffer“, im Gegensatz zu einem Bauchschuss, nach dem sich das ferne Opfer „windet wie ein Wurm“. Zur Deformation professionelle eines Scharfschützen gehört es, dass er an die von ihm ausgelöschten Existenzen keinen Gedanken verschwendet. Diese Deformation bestimmt auch seinen Ton als Ich-Erzähler. Indem Mathias Énard mit einer amoralischen Täter-Perspektive arbeitet, zwingt er die Leser in eine ungemütliche Komplizenschaft und erhöht die Intensität des Romans.

Der 1972 geborene Schriftsteller hat viele Auszeichnungen erhalten, darunter für den Roman „Kompass“ 2015 den Prix Goncourt und 2017 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Sein 2003 erschienener Debütroman „Der perfekte Schuss“ ist erst jetzt von Sabine Müller aus dem Französischen übersetzt worden; der Autor hat ihn dafür noch einmal leicht überarbeitet. In manchem weist das Buch bereits auf das große Kriegsepos „Zone“ voraus, das Énard 2008 den internationalen Durchbruch brachte.

Énard kennt die Bürgerkriege im Libanon und in Algerien

Aber um was für einen Krieg geht es hier überhaupt? Der Schauplatz wird atmosphärisch gezeichnet: eine helle, sonnige, nach Kräutern duftende Landschaft vermutlich am Mittelmeer. Aber nie wird gesagt, wer in diesem Bürgerkrieg gegen wen kämpft. Die Unbestimmtheit verstärkt den Eindruck der Präsenz und Unausweichlichkeit des Krieges – er lässt sich nicht historisch oder geographisch einhegen und wegschieben bei der Lektüre.

Der Ich-Erzähler tötet nicht nur aus Distanz. Er wird in grausige Nahkämpfe verwickelt und nimmt teil an Folterungen von Gegnern – schwer erträgliche Szenen. Zwischenzeitlich wird er abkommandiert zu Gefechten auf den Dörfern, wo Massaker an Zivilisten stattfinden. Dort wird er jedoch beinahe zum Sympathieträger. Er schreitet ein, als sein Freund Zak, der im Krieg zum Sadisten wird, eine Frau vergewaltigt. Zwar tut er dies nicht aus Mitleid und Menschlichkeit; gleichwohl bemüht sich Énard um eine gewisse Ambivalenz der Figur, die das bloße Verurteilen schwer macht. Der Scharfschütze wird als sensibler und reflektierter Mann gezeichnet.

Énard hat sich mit den Bürgerkriegen im Libanon und in Algerien beschäftigt; er hat Interviews mit Kriegsveteranen geführt. Die Gedankengänge der Kämpfer, Söldner, Schlächter sind ihm vertraut. Es geht ihm vor allem darum zu zeigen, dass der Krieg nicht nur die Städte, sondern auch die Seelen verwüstet. Auch im zivilen Alltag zwischen den Kampfeinsätzen erscheint dem Sniper der Gedanke an Gewalt immer öfter als Versuchung.

Wer so effektiv töten kann – warum soll der sich lange mit Widersachern herumärgern oder eine Demütigung verzeihen? Er lebt in seiner Wohnung allein mit seiner zunehmend dementen Mutter, die nach dem gewaltsamen Tod des Vaters früh verfallen ist. Mit ihrer Hilflosigkeit und ihren gequälten Angstschreien ist sie ihm lästig. Er scheut sich nicht, sie zu schlagen.

Der Respekt, den der Scharfschütze bei den Zivilisten genießt, beruht auf bloßer Angst. Diese Angst richtet auch eine Schranke auf zwischen ihm und der fünfzehnjährigen Kriegswaise Myrna, die er als Pflegehilfe für die Mutter in die Wohnung geholt hat. Er vereinnahmt sie, beschützend und begehrend zugleich. Dank Énards subtiler Erzählregie wird auch durch die Ich-Perspektive deutlich, wie sich Myrna immer unbehaglicher fühlt unter seinen Blicken.

Liebe als Kontrast zum Krieg

Am Ende lebt sie wie eine Gefangene in der Wohnung des Snipers. Jede seiner – anfangs noch schüchternen – Annäherungen löst stumme Panik bei ihr aus. Diese beklemmende einseitige Liebesgeschichte erweist sich nicht als Kontrasthandlung zum Kriegsgeschehen, sondern als dessen intime Fortsetzung. Unausweichlich diffundiert die Gewalt von der einen Sphäre in die andere. Ohne plakativ wie ein Theweleitscher Traktat zu  klingen, deutet der Roman Zusammenhänge zwischen Krieg und frustriertem Begehren, gehärteter soldatischer Männlichkeit und der Sehnsucht nach Auflösung an.

Seit Putins Eroberungsfeldzug in der Ukraine lesen sich Kriegs- oder Antikriegsromane anders. Aus dem eher historischen Genre ist Gegenwartsliteratur geworden. Während in den Debatten um Waffenlieferungen sogar vormalige Kriegsdienstverweigerer zu Hobby-Strategen und Bewunderern militärischer Kampfkraft („perfekter Schüsse“) mutieren – wofür es ja überzeugende Gründe gibt –, erinnern uns diese Romane an die entsetzlichen Realitäten und die vielen Kollateralschäden des Krieges. Gut deshalb, dass der aufwühlende, ungeheuer aktuell wirkende Roman von Mathias Énard endlich auf Deutsch erscheint.

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