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Annie Ernaux am Mittwochnachmittag in Stockholm nach ihrer Rede.

© REUTERS

Meine Klasse gerächt: Die Nobel Lecture von Annie Ernaux

Die französische Schriftstellerin und Literaturnobelpreisträgerin erzählt in Stockholm, wie sie zum Schreiben kam - und dass sie Literatur nach wie vor als einen Raum der Emanzipation versteht.

Man ist kurz irritiert, als an diesem späten Mittwochnachmittag Abdulrazak Gurnah ins Bild kommt, der Literaturnobelpreisträger des vergangenen Jahres, und seinen Platz im Lesesaal der Schwedischen Akademie einnimmt. Falsches Jahr? Spielt die Technik des Online-Nobelpreisportals gerade verrückt? Doch Gurnahs Anwesenheit ist eine schöne, noble Geste. Er will die Nobel Lecture seiner Nachfolgerin vor Ort verfolgen, die wenige Minuten darauf auf die Bühne kommt und im Sitzen ihre Rede auf Französisch liest.

Die Mutter vermittelte ihr die Literatur

Annie Ernaux beginnt damit, dass ihr dieser Beginn schwer falle, wie so oft beim Schreiben ihrer Bücher. Im Grunde habe sie aber nicht lange nach dem ersten Satz für diese Nobelrede suchen müssen: „J´écrirai pour venger ma race“. Diesen Satz schrieb sie vor sechzig Jahren in ihr Tagebuch geschrieben. Dabei hat sie mit „race“ in diesem Fall, als Echo auf einen Ausspruch von Rimbaud, „ihre Leute“ oder „ihre Klasse“ gemeint, und sie versteht das heute noch so.

Ernaux erzählt, wie sie zur Literatur kam: durch die Bücher, die ihr die Mutter, die kleine Ladenbetreiberin und passionierte Leserin gab, seien es „Don Quijote“ oder Camus’ „Der Fremde“; sie schildert, dass ihr beim Literaturstudium erstmal nicht aufging, dass die jahrhundertelangen „Demütigungen und Kränkungen“ durch ihre Leistung, als erste ihrer generationenübergreifend armen Familie ein Studium zu absolvieren, kaum wettzumachen waren. Und sie erwähnt die Schwierigkeiten, die sie hatte als Lehrerin, Ehefrau und Mutter zweier Kinder, und wie dieses Leben sie von ihrem Wunsch zu schreiben entfernte.

Wenn das Unaussprechliche ans Licht gebracht wird, ist es politisch.

Annie Ernaux am Mittwoch in Stockholm

Einige Faktoren (der Tod des Vaters, ihr Job als Lehrerin für junge Leute aus ihrem Milieu, die Protestbewegungen überall auf der Welt) bestärkten dann ihre literarischen Ambitionen , und zwar „objektiv“, „flach“, „emotionslos“, „neutral“ zu schreiben, trotz der Ich-Perspektive, spätestens seit ihrem vierten Buch, dem über ihren Vater, „La Place“. Ihr Vorhaben: „die inneren und äußeren Gründe zu verstehen, die dazu geführt hatten, dass ich mich von meinem Ursprüngen entfernt hatte.“

Mit dem Buch über den Vater veränderte sie ihr Schreiben

Diesen Milieu- und Klassenwechsel ist sie in den allermeisten ihrer Bücher auf den Grund gegangen - und den umkreist sie in ihrer Rede. Sie vergleicht ihr Schicksal in puncto Sprache mit dem von Migranten egal woher, weil auch diese nicht mehr die Sprache ihrer Eltern sprechen würden. „Spiegelt das aufständische Schreiben mit seiner Gewalt und seinem Hohn nicht die Haltung der Beherrschten wider?“, fragt Ernaux, um zu konstatieren, dass das Schreiben dazu geeignet sei, „sich neu zu erfinden.“ Und: „Wenn das Unaussprechliche ans Licht gebracht wird, ist es politisch.“

Eine „engagierte politische Rede“ hatte Ernaux Anfang Oktober angekündigt, gleich nach der Entscheidung der Schwedischen Akademie. Engagiert und politisch ist diese Rede tatsächlich, ohne dass Ernaux auf ihre Haltung im Nahost-Konflikt eingehen würde. Mehrmals reflektiert sie ihr Dasein als Frau in einer weiterhin männlich dominierten Welt und erwähnt die Revolte der Frauen im Iran.

Sie spricht von der „Aufdeckung des gesellschaftlich Unaussprechlichen“, prangert die Ausgrenzung von Geflüchteten und der wirtschaftliche Schwachen an und ächtet die „Überwachung des Körpers der Frauen“. Man ist verblüfft darüber, wen Ernaux alles glaubt, mit ihren Büchern zu repräsentieren - obwohl sie da vorbaut: Literatur und direkte politische Positionen als Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen würden von ihr keineswegs verwechselt. Mit einem leicht kunstreligiösen Hauch beendet Ernaux ihre Rede schließlich: mit einem Hoch auf die Literatur, die sie nach wie vor als „einen Raum der Emanzipation“ versteht. In ihrem Fall ist diese Emanzipation gelungen.

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