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Als die Skulptur laufen lernte. Gilbert & Georges Performance „Portrait of the Artists as Young Men“ (1970).

© Tate

Palais Populaire zeigt Tate-Sammlung: Starke Frauen, freche Kunst

Ein großartiger Gang durch die britische Bildhauerkunst: Das Palais Populaire in Mitte zeigt Skulpturen aus der Tate Gallery London von Henry Moore bis Tracey Emin.

Zu den Umwegen in der zeitgenössischen Kunst gehört ein Gerichtsurteil aus dem Jahr 1928, das Constantin Brancusis berühmte abstrakte Skulptur „Vogel im Raum“ auch juristisch zum Kunstwerk erklärt. Der rumänische Künstler hatte beim United States Customs Court in New York gegen die Vereinigten Staaten geklagt, weil seine Skulptur bei der Einfuhr vom Zoll als Gebrauchsobjekt deklariert worden war (und damit Steuern fällig geworden wären). Mit dem Urteil aber wurde es amtlich: Auch den Behörden hatte Abstraktes fortan als Kunst zu gelten; sie war offiziell nicht mehr allein darauf reduziert, realistisch abzubilden.

Elena Crippa, Kuratorin für moderne und zeitgenössische britische Kunst an der Londoner Tate Gallery, erinnert anlässlich der Ausstellung „Objects of Wonder“ im Palais Populaire noch einmal an diese Volte in der Rezeptionsgeschichte. Gut 90 Jahre später kommt wohl niemand mehr auf die Idee, abstrakten Werken ihren Kunstwert streitig zu machen. Und doch kämpft jede Künstlergeneration neu darum, die Grenzen weiter zu verschieben.

Gilbert & Georges Performance „Portrait of the Artists as Young Men“ (1970).
Gilbert & Georges Performance „Portrait of the Artists as Young Men“ (1970).

© Tate

Wie sie das schafft, führt die zweite große Präsentation im neuen Ausstellungshaus der Deutschen Bank Unter den Linden am Beispiel der britischen Bildhauerkunst seit den fünfziger Jahren vor. Siebzig Werke von Henry Moore bis Tracey Emin liegen hier dicht beieinander auf einer Zeitschiene: beginnend mit der kleinen „Liegenden“ aus Alabaster von Altmeister Moore bis zur rotzigen Frage „Is Legal Sex Anal?“ der Young British Artist-Repräsentantin Emin aus rötlichen Neonröhren. Ein großartiger Gang durch die Kunstgeschichte, vielleicht etwas verschult, aber ungeheuer erhellend, den man sich auch für die deutsche, die französische, die amerikanische Entwicklung vorstellen könnte.

Nach ihrer Ouvertüre „Works on Paper“, einer Vorstellung der besten Stücke aus der Unternehmenssammlung, positioniert sich die Deutsche Bank mit einem weiteren Ausstellungsschwergewicht als kultureller Player in Berlins Mitte. Zur Hilfe kommt ihr dabei die Londoner Tate Gallery, die der Bank seit Wegfall der Guggenheim-Verbindung immer wieder den Rücken gestärkt hat mit eindrucksvollen Einzelpräsentationen außereuropäischer Künstler. Umgekehrt sponsort die Deutsche Bank die Tate.

Nun aber geht es den Briten ums Kerngeschäft, die eigene Geschichte. Die aktuelle Ausstellung wurde eigens für das Palais Populaire entwickelt, die Leihgaben kommen aus allen vier Dependancen der Tate in London, St. Ives und Liverpool. Die Geste hat ihren guten Grund in Zeiten des Brexit. Für die Kunstszene stellt der Ausstieg des United Kingdom aus der EU eine Katastrophe dar, „Objects of Wonder“ ist auch als Zeichen der guten Nachbarschaft, ja Verwandtschaft zu verstehen. Kunst lebt vom internationalen Austausch, der gegenseitigen Inspiration.

Zwar leidet auch diese Ausstellung darunter, dass im Palais Populaire die Decken zu niedrig, die Galerien mit Exponaten zu vollgestopft sind, die Besucherführung vom Erdgeschoss in den Keller und dann in die erste Etage zu kompliziert ist, aber sie ist ebenso kapital wie ihre Vorgängerin. Die Anfänge der britischen Bildhauerkunst in der Nachkriegskunst zeugen noch von Zerrissenheit, dem fragilen Gleichgewicht, dem fragmentierten Menschenbild. Die Kreatur muss neu definiert werden. Die aufgebrochenen Frauendarstellungen von Geoffrey Clark, Kenneth Armitage, Reg Butler sind Dokumente der Versehrtheit, das frühere Leid ist ihren Figuren eingeschrieben.

Britischer Humor

Erst mit den sechziger Jahren hält Optimismus Einzug, importiert aus den USA: frische Farben, klare Formen, eine gewisse Frechheit. Anthony Caros fast vier Meter breite, strahlend gelb lackierte Skulptur „Yellow Swing“ ist ein Fanal. Der einstige Assistent Henry Moores hat die Skulptur vom Sockel geholt, stellt den banalen Stahl auf den blanken Boden und versteckt auch die dicken Schrauben nicht, welche die einzelnen Platten zusammenhalten. Für den amerikanischen Kritiker Clement Greenberg gilt er als der führende Bildhauer seiner Generation. Bedeutung sollte Caro aber nochmals als Lehrer gewinnen an der St. Martin’s School of Art, wo er die „New Generation“ heranzog, die ihrerseits erneut den Skulpturbegriff in Frage stellte. Ein bildhauerisches Produkt muss nicht unbedingt von dauerhaftem Bestand sein, es kann sich auch durch die Bewegung im Raum, durch die Aktion vollenden.

Natürlich darf das Duo „Gilbert & George“ da nicht fehlen, deren Existenz als „Living Sculptures“ bereits ein künstlerisches Statement ist. Hinreißend auch Bruce McLeans Fotoserie „Pose Work for Plinths“ von 1971, für das er sich selbst verrenkend auf drei Podeste platziert. Vom britischen Humor zeugt ebenfalls Rose Finn-Kelceys Selbstporträt „The Restless Image: a discrepancy between the felt position and the seen position“ von 1975, das die Künstlerin am Strand beim Handstand zeigt. Der um ihren Körper wehende Faltenrock lässt nur noch Arme und Beine hervorblicken, als wäre sie eine Möwe.

Hinter Sarac Lucas' Toughness konnte keiner zurück

Überhaupt spielen die Künstlerinnen in dieser Ausstellung eine große Rolle, je näher der Gegenwart, umso mehr. Von „Cool Britannia“ spricht heute zwar keiner mehr, die Young British Artists (YBA) waren eine Erfolgsgeschichte der neunziger Jahre. Aber hinter die Toughness einer Sarah Lucas konnte keiner mehr zurück. Ihr über die Lehne eines Stuhls gezogener Büstenhalter, der als Brüste zwei mit Zigaretten ummantelte Kugeln trägt – Titel: „Cigarette Tits (Idealized Smokers Chest II)“ – nimmt den alltäglichen Sexismus auf’s Korn.

Inzwischen sind die Ausdrucksformen wieder formalistischer geworden. Helen Marten, die Turner-Preisträgerin von 2016, zeigt ein an der Wand befestigtes gewaltiges Arrangement mit abstrakten Holzelementen, dazwischen Federn, ein Tennisball und eine Spielzeugschlange. Mit ihrer „Guild of Pharmacists“ weist sie auch YBA-Superstar Damien Hirst in seine Schranken, der gegenüber in drei Großvitrinen medizinisches Anschauungsmaterial vom menschlichen Körper zeigt. Die britische Bildhauerkunst gibt sich wieder mehr sophisticated.

Tate Britain zeigt ein Jahr nur Frauen

Mit dem starken Frauenanteil setzt die Tate Gallery neben der ausgestreckten Hand zum Kontinent noch eine weitere Botschaft in ihrer Ausstellung ab. Erst kürzlich hat die neue Tate-Generaldirektorin Maria Balshaw bekanntgegeben, dass ab April mindestens ein Jahr lang unter dem Titel "Sixty Years" nur Künstlerinnen in der permanenten Ausstellung ab 1960 zu sehen sein werden, um ihren Beitrag in der britischen Kunstgeschichte zu würdigen. Schon jetzt zeichne sich ab, dass bei weitem nicht alle wichtigen Positionen unterzubringen seien, so Tate-Ausstellungsdirektorin Andrea Schlieker nun in Berlin. Das hat auch mit der Ankaufspolitik des Museums zu tun; in den vergangenen Jahren wurden vornehmlich Werke von Frauen erworben. Auch das könnte ein Anstoß für Berliner Museumsmacher sein.

„Objects of Wonder“ lautet der Titel der Ausstellung und lässt doch nicht nur über Objekte staunen.

Palais Populaire, Unter den Linden 5, bis 27. 5.; Mi bis Mo 10 – 19 Uhr, Do bis 21 Uhr. Katalog 26 €. Kuratoren-Talk am 1. 2. um 18 Uhr.

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