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Patrick Modiano am Sonntag während seiner Nobelpreisrede in Stockholm

© dpa-bildfunk

Patrick Modianos Nobelpreisrede: Die Geheimnisse von Paris

Die Stadt, die Rätsel der Herkunft und die Okkupationszeit: Patrick Modiano hat in Stockholm eine wunderbare, ihm und seinem Werk gemäße Nobelpreisrede gehalten.

Als Patrick Modiano am Ende seiner Nobelpreisrede am Sonntagabend in Stockholm noch einmal auf die eigentliche Aufgabe eines Schriftstellers zu sprechen kommt, nämlich zumindest Fragmente der Vergangenheit vor dem Vergessen zu bewahren, scheint er etwas irritiert zu sein, so wie er sich da weiter an seinem Manuskript festhält. Soll es das nun schon sein mit dem schönen Schlussbild, in dem er die verblassten Worte, die es wieder sichtbar zu machen gilt, mit abgetriebenen Eisbergen auf den Ozeanen vergleicht? Ist wirklich alles gesagt? Doch da steht nichts mehr, Modiano schaut auf, das war es! Er zuckt entschuldigend-erleichtert mit Körper und Händen, ein bisschen unbeholfen, und nimmt gerührt den Beifall des Auditoriums in der schwedischen Akademie entgegen.

Aber ja, man hätte ihm gern weiter zugehört, dem frischgekürten französischen Literaturnobelpreisträger! Es ist eine schöne, seinem Romanwerk sehr gemäße, ihn selbst und die Genese seiner Poetologie erklärende, einige Zeiten und Räume durchmessende Rede, die Modiano hält. Auch zwei kurze Blicke in die Zukunft gestattet sich der 69-jährige Schriftsteller. Einmal bezüglich der nachfolgenden Generationen, die mit dem Internet aufwachsen, permanent „connecté“ sind und scheinbar keine Geheimnisse, keine Intimität kennen, die doch das Wesen von Literatur mitbestimmen: „Ich bin neugierig, wie diese Generationen sich literarisch ausdrücken werden.“ Und das andere Mal, da erläutert Modiano die Verbindung von großen Städten mit dem Einzelnen, der in ihnen verloren geht, sich immer wieder neue Identitäten zulegt und mit dem Verstreichen der Zeit nicht zurecht kommt. Und um die alten, eher „romantischen“ Vorstellungen, die insbesondere Autoren des 19. Jahrhundert von großen Städten haben, Autoren wie Balzac (Paris), Dickens (London) und Dostojewski (St. Petersburg) hatten: „Ich würde gern erfahren, wie zukünftige Schriftsteller mit den Megacities literarisch verfahren“.

Das Paris, das Modiano in seinen Büchern so unermüdlich durchstreift, ist an vielen Stellen nicht mehr existent. Es hat sich verändert, ist ein Ort der Erinnerung, der Vergangenheit viel mehr als der Gegenwart: „Diese Stadt ist die meiner ersten Kindheitseindrücke, und diese Eindrücke waren so stark, dass ich seitdem immer wieder versucht habe, die ’mystères de Paris’ zu erkunden“, so Modiano in Anspielung auf die Fortsetzungsgeschichten von Eugène Sue aus den Jahren 1842 und 1843. Als Kind der Pariser Okkupationszeit bezeichnet Modiano sich, geboren 1945 nur wegen der besonderen Umstände dieser Zeit; einer Zeit der Dunkelheit, der flüchtigen Begegnungen, der ständigen Gefahr und gerade auch der „Rätsel“ seiner Herkunft, die er nicht zuletzt mit dem Schreiben versucht habe zu lösen: „Dieses Paris hat nie aufgehört, mich zu verfolgen, meine Bücher sind oft in sein verschleiertes Licht getaucht.“

Modiano erklärt dann noch, was es mit den Mysterien der vielen Namen, Adressen und Telefonnummern auf sich hat, den Stimmen der Toten, die ihn so anziehen und Schicksale ihm unbekannter Menschen zuhauf imaginieren lassen, und sofort findet man ähnliche Zeilen in seinen Büchern. Zum Beispiel in „Vorraum der Kindheit“, wo sich der Held Säcke voller Briefe mit seit fünfzig Jahren ungültig gewordenen Briefmarken vorstellt, die in der Gegend herumgeflogen werden. Tot viele der Absender, viele der Empfänger – und doch würden vielleicht „einige wenige Personen dieses Briefe erhalten und hätten zu ihrer großen Überraschung ein unversehrtes Stück ihrer Jugend in Händen, einen Meteoriten, von einem Planeten gefallen, der schon vor Ewigkeiten verschwunden ist.“

Modiano ist auf der ständigen Suche nach diesen Planeten der Jugend. Das große Glück für seine Leser ist es, dass jedes neue seiner Bücher das vorhergehende gewissermaßen auslösche, wie er in Stockholm auch gesteht, und er deshalb stets von vorn anfangen müsse. Also: Auch Selbstvergessenheit kann produktiv und kreativ sein und Literaturnobelpreise verschaffen!

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