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Die Gäste bei „Acik Mikrofon“, moderiert von Oguzhan Ugur, sind meist umstrittene türkische Politiker.

© youtube/BaBaLaTV/Screenshot: Tagesspiegel

Politiker im Verhör: Nationalismus am offenen Mikrofon

Eine türkische Talkshow lädt Politiker des Landes ein, um vor einem jungen Publikum Rede und Antwort zu stehen. Das Konzept ist progressiv, nur das Publikum selbst ist es nicht.

In diesem Raum müssen türkische Politiker Rede und Antwort stehen. Er erinnert an einen Hörsaal, die von oben nach unten abfallenden Sitzreihen, das grelle Licht. Es gibt keine Ablenkung im Saal, keine Unordnung. Da ist nur das junge Publikum auf den roten Polstersesseln, das gebannt nach vorne schaut. Die Show beginnt, als der junge Talkmaster Oğuzhan Uğur das Podium betritt und mit dem Publikum plaudert.

Viele der Anwesenden sind Studierende, aber hier wartet niemand auf den Beginn einer Vorlesung. Statt eines Professors wird gleich ein Politiker vor die Zuschauer:innen treten. Dann wird der Gast allein im Mittelpunkt stehen, kurz nachdem sich auch Moderator Oğuzhan Uğur zum Publikum gesellt hat. Doch zuvor wartet er wie in amerikanischen Late-Night-Shows hinter einem wuchtigen Holztisch auf seinen Gast, um ihn mit bohrenden Fragen auf die nächsten drei bis vier Stunden einzustimmen.

So lange dauert eine Folge der derzeit wohl populärsten türkischen Sendung „Açık Mikrofon“ (türkisch für „Das offene Mikrofon“). Die politische Talkshow verzeichnet auf YouTube millionenfache Aufrufzahlen. In den sozialen Medien werden regelmäßig Videoausschnitte geteilt und breit diskutiert. Bekannte YouTube-Stars des Landes kommentieren die Folgen, auch diese Videos gehen sofort viral.

Die Sendung kommt im Vorfeld der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 14. Mai wie gerufen. Sie punktet mit der lockeren, jugendlichen Art des Moderators. Der weiß, dass hier niemand Lust auf salbungsvolle Reden der Gäste hat, die sich aus umstrittenen, bekannten, teils populistischen Politikern aus dem gesamten Parteienspektrum des Landes zusammensetzen.

Die umstrittene Familiengeschichte des Moderators

Die Monologe werden unterbrochen, wenn sie nicht zufrieden stellen. Denn zur Abwechslung haben die Jugendlichen das Mikrofon in der Hand, während die Politiker manchmal schüchtern, manchmal aufbrausend, oft aber devot vor dem skeptischen Publikum sitzen.

Der Entertainer Oğuzhan Uğur ist für seine Schlagfertigkeit bekannt. Bei der jungen Generation ist der Komiker und Fernsehstar beliebt. Mittlerweile wird er sogar als Enthüllungsjournalist gefeiert, der in seiner Sendung Politikern auf den Zahn fühlt. Dass der Moderator dabei aus seiner eigenen offen nationalistischen Haltung keinen Hehl macht, stört niemanden.

Ugur ist zudem der Sohn von Hasan Atilla Ugur, einem ehemaligen Kommandeur der türkischen Armee, dem bis heute Folter und nicht vollständig aufgeklärte Morde an Kurd:innen in den 1990er Jahren vorgeworfen wird. Über seinen Vater äußert er sich in der Sendung oft positiv und humorvoll, was mit Gelächter quittiert wird.

Wirklich kritische Fragen werden ausgebuht

Ein Blick in die Sendung genügt, um einen Eindruck davon zu bekommen, was die Jugendlichen im Land bewegt. Es sind wiederkehrende Fragen, oft die gleichen Themen: Inflation, Bildung, Korruption, Flüchtlingskrise, Kurdenfrage. Schlagworte, die das Land und das Leben der Generation Z prägen. Gesprächsstoff gibt es jedenfalls genug.

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In wirtschaftspolitischen Fragen sind sich junge Menschen oft einig. Dann sind sie kritisch, fordern die Politiker heraus, verlangen Antworten und glaubwürdige Versprechen. Doch sobald es um rechtsnationalistische Haltungen, Antisemitismus, Rassismus gegenüber Geflüchteten und Minderheiten wie Kurd:innen oder Alevit:innen geht, werden vereinzelte kritische Stimmen im Publikum verhöhnt.

Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus - alles bleibt unkommentiert

Die Jugend in der Türkei ist skeptisch, aber auch politisch stark indoktriniert. Nationalismus wird in der Türkei als eine Art Bringschuld gegenüber dem Vaterland verstanden. Da können selbst rechtsextreme, ultranationalistische Politiker wie Sinan Oğan und Muharrem Ince, die beide neben Staatspräsident Erdoğan und Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu bei den Präsidentschaftswahlen antreten, ganz moderat erscheinen.

Vermeintlich kritische Fragen zur sogenannten Flüchtlingskrise aus dem Publikum arten in eine regelrechte Hetze gegen Syrer und Afghanen in der Türkei aus, die minutenlangen Beifall von allen Zuschauer:innen ernten.

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Betroffene, die es wagen, ihre Diskriminierungserfahrungen als Angehörige von Minderheiten mitzuteilen, werden vom Publikum selbst als Spalter und Lügner angegriffen und beschimpft, da muss der vorne sitzende Politiker nicht mehr viel tun. Moderator Uğur lässt vieles unkommentiert - wohl nicht zuletzt wegen seiner eigenen politischen Haltung.

Es hätte eine gute und konstruktive Sendung sein können. Sie könnte beispielhaft sein für eine offene und kritische Debattenkultur mit den Jüngeren im Land, aber schnell wird klar: In der Türkei gibt es noch zu viele Themen, die unter staatlichem Verschluss sind.

Es gibt Fragen, die nicht gestellt werden dürfen. Und doch werden sie von einzelnen Leuten im Publikum hin und wieder gestellt, begleitet von großer Empörung des restlichen Publikums und der Gäste. Die Sendung zeigt vor allem eines: Rechte Tendenzen haben sich selbst unter den skeptischsten Jugendlichen des Landes ausgebreitet.

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