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Kuriosum. Seine Funktion als Wasserturm hat der von Hans Heinrich Müller entworfene Bau nie erfüllt.

© Thilo Rückeis

Berliner Türme (2): Steglitzer Wasserturm: Riese im Reich der Toten

Mitten auf dem Friedhof: Die wechselvolle Geschichte des Steglitzer Wasserturms, in dem jetzt ein Verlag residiert.

Wahnsinn, ist der Turm hoch, genau 42 Meter. Steht er auch stabil? Wenn man den Kopf in den Nacken legt und die schiefergrau eingedeckte Kuppel fixiert, scheint der Koloss zu schwanken. Aber das kann nicht sein. Am sommerlich blauen Himmel ziehen die Wolken darüber hinweg, dadurch verkehrt sich in der Wahrnehmung, was ruht und was sich bewegt. Neben dem eigenen, leicht schwankenden Stand mag das auch daran liegen, dass sich der Wasserturm auf einer Anhöhe befindet, frei stehend mitten in der Stadt. Die Vergleichsgrößen fehlen. Hier auf dem Friedhof Bergstraße fallen sie besonders niedrig aus: rundum nur Grabsteine, Sträucher, Hecken und erst in einiger Entfernung eine kleine Kapelle als nächste Nachbarin.

Wer sich dem Steglitzer Wasserturm nähert, macht dies gemessenen Schrittes. Links und rechts des schnurgeraden Hauptweges ruhen die Toten. Gleich hinter dem Eingang steht auf einer Mauer nachdrücklich in altdeutscher Schrift geschrieben: „Was wir sind / das waret ihr / Was ihr seid / das werden wir“. Diesem Turm tritt der Besucher automatisch andachtsvoll entgegen. Nach Umkreisung der geöffneten Einsegnungshalle, wo gerade ein Sarg aufgebahrt ist, geht es sacht höher auf die Reste der einstigen Rauhen Berge.

Bevor sie eingeebnet wurden, dienten sie Otto Lilienthal für seine Flugversuche und in der Weimarer Zeit Ernst Lubitsch als Hintergrund für seine Filmkulisse mit Pharaonenpalästen und ägyptischen Sphingen. Seit fast 100 Jahren aber steht auf dem höchsten Punkt der ehemaligen Landgemeinde nun der Turm aus rotem Ziegelstein. Von seiner Formensprache – kannelierte Pilaster, die einen Architrav tragen, dazu Kranzgesims mit Zahnschnitt – erinnert er an einen antiken Rundtempel, was zum Friedhof passt, auch wenn dieser erst im Laufe der Jahre rund um den Turm entstand.

Mit seiner leuchtend roten Farbe, dem aufwendigen Rautenmuster, den meterhohen Rundbögen, die einst offen waren, stellt der vom damaligen Gemeindebaurat Hans Heinrich Müller entworfene Wasserturm ein besonderes Prachtexemplar des Ziegelexpressionismus dar. Nach seiner Amtszeit in Steglitz wechselte Müller zu den städtischen Elektrizitätswerken, für die er Umspannwerke und Schaltstationen in ganz Berlin baute. Wer einmal seinen Wasserturm gesehen hat, erkennt dessen elegante Linie, die betonte Vertikale auch an anderen Gebäuden Müllers wieder. Was den Steglitzer Wasserturm aber zum Kuriosum macht: In seiner eigentlichen Funktion wurde er nie wirklich genutzt, da im Moment seiner Fertigstellung Steglitz sein Wasser aus Charlottenburg bezog. Nur 1928 wurde er gefüllt und zur Deckung von Spitzenbelastungen genutzt beziehungsweise zwischen 1950 und 1962 teilweise weiter betrieben. Erst Jahrzehnte später hat er seine Aufgabe gefunden, als Adresse für einen medizinischen Fachverlag, der hier seit 2000 residiert. So macht die Wahrnehmung des steinernen Kolosses nochmals eine Kehrtwendung, sobald man die Treppe zum Eingang genommen hat: bunte Blumen in blau glasierten Übertöpfen vor der Tür, in der Garderobe eine Reihe Hausschuhe, als wäre hier ein gemütliches Heim.

Sogar ein Esoterik-Zentrum wollte in den Turm ziehen

Doch davon ist der Steglitzer Wasserturm weit entfernt. Hier wird in einem Großraumbüro gearbeitet, vermutlich dem extravagantesten von Berlin. Fast war dieses Steglitzer Wahrzeichen schon aufgegeben, Ziegelsteine fielen aus der Fassade, die Dachpappe hielt nur noch notdürftig den Regen ab, die Fenster waren verrammelt, Natodraht sollte Neugierige abhalten. Ein Bild des Jammers, doch die Denkmalpflege hatte vorsorglich errechnen lassen, dass ein Abriss, der unter Wahrung der Totenruhe mühsam geworden wäre, den Bezirk weit mehr kosten würde als die Sanierung. Fehlte nur ein neuer Nutzer, der den Innenausbau übernehmen würde.

Interessenten gab es durchaus. Doch Altenstift und Pflegeheim verboten sich aus Pietätsgründen, Hotel und Veranstaltungsstätte gingen ebenso wenig, da die Anbindung mit dem Friedhofsbetrieb kollidiert wäre. Sogar ein Esoterik-Zentrum brachte sich ins Gespräch, doch der Bewerber, Schlagerstar Christian Anders, lieferte seinen Nutzungsantrag letztlich nie ab. So bekam Verleger Wolfgang Becker-Brüser den Zuschlag, der in der Nachbarschaft wohnt. Von seinem Frühstückstisch hatte er den verfallenden Riesen immer im Blick gehabt, ohne zu ahnen, dass er zu erwerben war, bis er davon in einer Wurfsendung las.

Wer heute das Steglitzer Wahrzeichen besucht, trifft also einen echten Turmherrn an, der sein ungewöhnliches Domizil noch immer beglückt präsentiert. Verlag und Adresse passen perfekt zusammen. Die 16-köpfige Redaktion von Becker-Brüsers monatlich erscheinendem Arznei-Telegramm, das Wirkung und Verträglichkeit von Medikamenten beschreibt, hält sich von Publikumsverkehr bewusst fern. Kommunikation mit der Außenwelt funktioniert online, höchstens telefonisch, der Besuch insbesondere pharmazeutischer Vertreter ist unerwünscht, denn die kritische Distanz zur Medizin-Industrie ist Grundlage der streitbaren achtseitigen Publikation.

Nur einmal vor Jahren, als Schweinegrippe ausbrach, herrschte über Wochen Andrang, Kamerateams, Radiosender kamen, um Becker-Brüser zu interviewen. Er hatte damals die provokante These vertreten, hierbei handele es sich um einen Großversuch an der Bevölkerung. Heute ist die Friedhofsruhe längst wieder eingekehrt, auch wenn der studierte Arzt und Apotheker diese Anspielung nur mäßig komisch findet. In Becker-Brüser als Investor aber fand die Denkmalpflege einen idealen Partner, der sich für die wechselhafte Geschichte seines Domizils interessierte und sie im neu gestalteten Innenraum sichtbar werden ließ. Ziegelrot und steinsichtig blieb der historische Kern, sogar die später eingebauten Strahlträger für den Wasserbehälter mit ihren zentimeterdicken Schrauben wurden wieder freigelegt. Beige erscheinen die eingezogenen Ringgalerien und die drei erhaltenen Spitzbögen aus den Zwanzigern, als aus dem Turm ein Kolumbarium für über tausend Urnen werden sollte. Auch diese Pläne zerschlugen sich, ebenso wie der Anbau eines Krematoriums.

Von der zwischenzeitlichen Umgestaltung zum Ehrenmal für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges Mitte der dreißiger Jahre blieben nur die geschliffenen Reste eines Betonblocks in der Mitte der Rotunde, auf dem sich einst die Skulptur eines Reichsadlers befand. Heute steht der Konferenztisch darüber. Nach dem Krieg diente der Bau zur Aufbewahrung von Geräten der Gärtnerei, die Phase des Verfalls begann, an die nun nichts mehr erinnert. Was mit dem Bezug durch den Verlag neu hinzukam, die Teeküche etwa, ist in frischem Blau markiert.

Das letzte Kapitel des Wasserturms scheint aufgeschlagen. Heute sitzen hier Redakteure im kreisrunden Großbüro, jeder hat seine eigene Nische mit Blick ins Grüne. Arbeitsame Stille herrscht, Rufe quer von einem Geschoss zum anderen, verbieten sich, alle anderen würden ebenfalls aufgestöbert. Das Mobiliar wurde eigens geschreinert, die Regale schmiegen sich rund um die Balustrade. Übrigens musste die Wasserleitung ebenfalls neu gelegt werden. Die war zwischenzeitlich abgebaut worden.

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