zum Hauptinhalt
Lina Meruane, geboren 1970 in Santiago de Chile.

© Sebastián Utreras

Roman von Lina Meruane: Blind und gefährlich

Was geschieht mit einem Menschen, der plötzlich das Augenlicht verliert? Davon erzählt die DAAD-Stipendiatin Lina Meruane in ihrem Roman „Rot vor Augen“.

Es ist eine gespenstische Vorstellung: Eben noch amüsiert man sich auf einer Party, unterhält sich und tanzt, und plötzlich ereignet sich eine Katastrophe hinter den Pupillen. Ein blutiger Schatten legt sich auf die Augen, es dringt kaum noch Licht durch die Netzhaut: „Vor Mitternacht war mein Sehvermögen tadellos gewesen. Doch an diesem Sonntagmorgen um drei hätte mir nicht einmal die stärkste Lupe geholfen.“

Die chilenische Autorin Lina Meruane hat ein eigenes Erlebnis zum Ausgangspunkt ihres Romans gemacht: Was geschieht mit einem Menschen, mit der Wahrnehmung der Welt und mit engsten Beziehungen, wenn man plötzlich das Augenlicht verliert, nichts oder fast nichts mehr sehen kann? Wenn unwägbar bleibt, ob die Sehkraft wiederkehrt oder man für immer in einem undurchdringlichen Dunkel zubringen muss?

Die Protagonistin ihres Romans „Rot vor Augen“ heißt Lucina Meruane, genannt Lina. Tatsächlich wollte die derzeit als DAAD-Stipendiatin in Berlin lebende Autorin zunächst eine autobiografische Geschichte schreiben. Schnell aber spürte sie, dass sich die Erzählung verselbständigte, das Möglichkeitsspiel die Oberhand gewann und ihr Alter ego eigensinnige Züge entwickelte.

Das Blindsein setzt einen Erkenntnisprozess in Gang

Denn mit der Diagnose konfrontiert, reift in der jungen Frau im Roman etwas Widerständiges. Sie begehrt auf. Aus der Schwäche gewinnt sie eine gewisse Aufmüpfigkeit. „Ja, bin aber bloß ein Blindenlehrling mit wenig Ehrgeiz zum Meistertitel, und ja, fast blind und gefährlich. Aber ich werde mich nicht auf einen Stuhl setzen und warten, dass es vorübergeht. Ignacio wäre es lieber gewesen, wenn ich still gesessen und gegrübelt hätte, aber es gibt nichts mehr zu denken, sagte ich, entriss ihm tastend die Zigarette und nahm einen verbotenen Zug. Alles Denkbare habe ich schon gedacht, sagte ich und nahm einen noch tieferen Zug.“

Ignacio ist der Freund der Heldin. Sie sind noch nicht lange ein Paar, ziehen in eine Wohnung in New York, wo Lina studiert und ihre ersten Schritte als Romanautorin unternimmt. Die Beziehung wird enger, festigt sich – und just in diesem Moment erleidet sie den Infarkt im Auge: Hält die Liebe diese Ungewissheit aus? Wird Lina nun abhängig sein vom Wohlwollen ihres Freundes, wird er aus Mitleid bei ihr bleiben? Auch um diese Fragen kreisen die verzweifelten, heiß laufenden, immer wieder explodierenden Gedanken der Erzählerin.

Bald wird aber klar, dass das Blindsein eine Art Erkenntnisprozess in Gang setzt: Das Verhältnis zu den dominanten Eltern in Chile wird hinterfragt, auch das Schreiben, und das Chaos im Innern verschränkt sich mit den politischen Umständen im Heimatland und in den USA. Die Angreifbarkeit des Körpers ist zugleich ein Symbol für die Angreifbarkeit einer Gesellschaft – Erinnerungen an den Militärputsch 1973 in Chile werden mit 9/11 kurzgeschlossen. Ignacio, der Freund, wird immer mehr zu einem Teil ihrer selbst: Er ersetzt die fehlende Sehfähigkeit, er spendet auf gewisse Weise seine Augen, führt Lina durch die Nacht.

Aufdringlich im besten Sinne

Dieser mit großer Expressivität, fast eruptiv und wütend in kurzen Kapiteln erzählte Roman ist aber noch mehr: Er zeigt nicht nur das Hinausgleiten aus der bekannten Welt, sondern auch die Absurdität eines medizinischen Systems, das mindestens ebenso sehr im Dunkeln tappt wie die Protagonistin. Ihr Augenarzt Dr. Lekz, dem sie vertraut, der sich aber selbst nach Jahren ihren Namen nicht merken kann, verkörpert Ratlosigkeit und Hybris, ein Quacksalber im Gewand eines Gottes in Weiß.

Meruanes Roman ist aufdringlich, im besten Sinne: Die Wahrnehmungsfähigkeit und Gereiztheit der Erzählerin, ihre Empfindlichkeit und Bissigkeit, ihre Verletzlichkeit und Gewalt transportieren sich über die Sprache. Das Auge ist ein äußerst sensibles Sinnesorgan – und Lina Meruane gelingt es, die Angriffe auf das Augenlicht ihrer Heldin nicht nur als Krankheitsgeschichte zu erzählen, sondern in eine Parabel über das Verhältnis von Ohnmacht und Selbstermächtigung zu verwandeln.

Lina Meruane: Rot vor Augen. Roman. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Arche Verlag, Zürich 2018. 202 Seiten, 20 €.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false